Mein Name war Judas
aus Eimern in Töpfe gegossen und in der Küche erhitzt wurde. Es wurde Nacht, und die Zeit schien stillzustehen, als könne der neue Tag, so wie das neue Leben, seinen Weg nicht finden. Als die Sonne dann endlich aufging, verbreitete sie ein merkwürdiges, ein unheimliches Licht. Alles wirkte darin schutzlos und zerbrechlich. Der Tag ging dahin, aus dem Schreien wurde Stöhnen und Schluchzen, dann keuchendes, ersticktes Atmen, schließlich Stille.
Es gab zwei unerträgliche Ereignisse in meinem Leben, und beide Male ging es um den Tod eines geliebten Menschen, verbunden mit entsetzlicher Hilflosigkeit und maßlosem Schmerz. Selbst heute, so viele Jahrzehnte später, bin ich nicht in der Lage, den Gedanken an einen dieser Tode zu ertragen. Judith, die ich über die Maßen geliebt hatte, war tot. Und mit ihr unser Kind. Ob Junge oder Mädchen, habe ich nie erfahren, er oder sie hatte das Licht der Welt gar nicht erblickt.
Ich war verzweifelt. Meine Mutter tat für mich, was sie konnte. Vielleicht habe ich ihr zu verdanken, dass ich mir nicht das Leben nahm, obwohl ich zurückblickend denke, dass meine Suizidgedanken nur einen hilflosen Wunsch nach Selbstbestrafung darstellten.
Nichts, was mein Vater sagen konnte, hätte helfen können, aber was er dann tatsächlich nach der Beerdigung sagte, machte alles noch schlimmer. Auf seine unverbindliche Art und ohne mich richtig anzusehen, sagte er, nun sei offenbar geworden, dass auf Judiths und meiner Verbindung nicht Gottes Segen ruhte.
»Du meinst, der Himmel steht auf deiner Seite?«, sagte ich. »Dann verfluche ich den Himmel, genau wie ich dich verfluche.«
Mein Vater war kein besonders religiöser Mann, aber er war zutiefst schockiert. Selbst ich – der rationale Skeptiker von heute – bin schockiert, wenn ich daran zurückdenke.
Kurz darauf kehrte Jesus nach Nazareth zurück. Er kam als Wanderprediger und nahm bei meiner Mutter und mir Quartier – warum nicht bei seiner eigenen Familie, darüber wurde nie gesprochen, aber die Kluft zwischen ihm und Maria, die mit seiner wachsenden Popularität noch größer werden sollte, war bereits offensichtlich.
Ich empfand seine Anwesenheit als tröstlich. Ich wusste ja nicht, wie wohltuend sein Mitleid sein konnte und wie erhebend es war, von ihm geliebt zu werden, bis jetzt war ich nicht der Empfänger solcher Zuwendungen gewesen. Jetzt aber saß er stundenlang bei mir und berührte mich leicht mit den Fingerspitzen, während ich von Judith erzählte und immer wieder von vorn anfing. Ich erzählte, wie ich sie in der dichtesten Menschenmenge nur an ihrem Hinterkopf oder – wenn sie mit den anderen Frauen des Dorfes am Brunnen war – von Ferne an ihrer Figur erkannt hatte. Ich erzählte von ihren Augen, ihrem Haar, ihrem Gang, ihrer Stimme. Wie die ganze Welt nur Judith gewesen war. Wie sie überall und nirgends gewesen war. Wie mein Herz hüpfte, wenn ich sie unerwartet erblickte, und wie untröstlich ich war, wenn ich mich getäuscht hatte. Und dass ich nicht wusste, wie ich ohne sie weiterleben sollte.
Jesus ging vollkommen auf meine Bedürfnisse und meinen Schmerz ein. Wären die Rollen andersherum verteilt gewesen, hätte ich gewiss ebenfalls mein Bestes gegeben, aber ich bin mir sicher, dass ich nicht das gleiche Maß an Geduld, Selbstlosigkeit und Einfühlungsvermögen aufgebracht hätte.
In der Zeit, als er bei uns wohnte, sollte er einmal eine Predigt in einem Haus halten, das erst kürzlich ausgebaut worden war und nun als Synagoge diente. Es war ein Sabbat, und der Rabbi rief ihn als Ersten zur Lesung auf. Der Text, den Jesus ausgewählt hatte, war von Jesaja. Er las ihn direkt von einer Schriftrolle ab, auf Hebräisch, dann übersetzte er ihn ins Aramäische, weil es die einzige Sprache war, die von den meisten Anwesenden verstanden wurde.
»Der Geist Gottes ruht auf mir
Und heißt mich verkünden
Reichtum den Armen, Glück den Unglücklichen,
Freiheit den Gefangenen
Licht jenen, die in Dunkelheit wandeln,
Und Trost den Trauernden.«
Dass er das Hebräische übersetzte beziehungsweise nicht gleich eine aramäische Fassung vorlas, dachte ich, könnte von manchem als Angeberei empfunden werden, aber seine Stimme war in beiden Sprachen so angenehm und eingängig, dass er die Menschen berührte. Ich hörte sie einander fragen, wer dieser junge Mann sei, denn der Sohn des ortsansässigen Zimmermanns könne er ja wohl nicht sein. Maria und Josef waren nicht anwesend, auch seine Brüder nicht, nur
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