Mein Name war Judas
Besitz ergriff. Dann sprach er oft nur wenige Worte, »Meine Freunde«, oder einen einfachen Satz wie: »Der Herr hat uns im Schatten dieses Baumes zusammengeführt.« Dann stand er wieder schweigend da. Die Leute zischten einander zu, man solle still sein, und beugten sich vor, um besser hören zu können. In diese Stille hinein fiel dann der nächste Satz von ihm. Dann wieder Stille. Dann noch ein Satz. Langsam, ganz langsam steigerte er sich in seine Vorstellungswelt hinein und verdichtete, was er sagen wollte, zu einem Gleichnis.
Selten entfesselte er in seinen frühen Predigten ein Donnerwetter; meist hob er nicht einmal die Stimme. Ausgiebig bediente er sich der Texte, die wir als Kinder auswendig gelernt hatten. Oft kam es mir zuerst vor, als zitiere er wahllos daraus, aber dann verwob er die Versatzstücke so meisterlich miteinander, dass ganz wunderbare Reden entstanden, klar und überzeugend. Immer liefen sie auf eine Huldigung des Gottes Israels hinaus und auf Seine Verheißungen für die Armen, die Kranken, die vom Schicksal Gebeutelten und die Trauernden.
Zu den Trauernden gehörte auch ich. Mit jeder Faser meines Körpers. Ich hatte Tränen in den Augen, wenn er sprach, und die Erinnerung an Judith überwältigte mich. Seine Sprache war wunderbar. Sie war Gebet, Prophezeiung, Poesie. Mehr als alles andere aber schien sie sich selbst zu zelebrieren. Das war für mich das eigentliche Wunder.
Es gab Momente (nicht oft, aber oft genug, um das Mysterium zu komplettieren), in denen Jesus in sich hineinzusehen schien beziehungsweise in den Himmel oder wo immer die Quelle seiner Kraft lag, ohne dort zu finden, was er suchte. Dann entstand keine Magie. Und das machte ihn paradoxerweise noch »magischer«, weil man sah, dass er seine Kraftquelle nicht nach Belieben an- und abschalten konnte, dass sie nicht seinem Willen unterworfen war. Um gut zu sein, benötigte er Inspiration, den Lebenshauch einer Macht, die außer ihm lag. Und welcher Lebenshauch konnte das sein, wenn nicht der Gottes?
Später, als er um sein Leben fürchtete und uns zwölf darauf vorbereitete, seine Botschaft ohne ihn weiterzutragen, sagte er immer wieder: »Haltet keine vorbereiteten Reden. Seid nicht auf Sicherheit bedacht. Denkt nicht an die Konsequenzen. Der Heilige Geist wird euch leiten. Seid fest im Glauben, und die rechten Worte werden euch eingegeben.« Genauso hatte er es gehalten, von Anfang an.
Er predigte Nächstenliebe und Hoffnung, aber die Botschaft, die sich dahinter verbarg, war eine andere. Er wollte, dass wir uns auf die Zeit freuten, in der Israel von seinem Gott regiert würde. Es schien ein ganz einfacher Gedanke zu sein, aber er implizierte, dass dieser Gott zurzeit nicht in Israel herrschte, was, wenn man darüber nachdachte, nichts anderes bedeutete, als dass die Römer und alle, die ihnen dienten oder sich von ihnen einschüchtern ließen, Ihn von seinem rechtmäßigen Thron gestoßen hatten – Herodes und seine Nachkommen, die Tempelwächter und die priesterlichen Familien.
Wir bereisten ganz Galiläa, zogen von Ort zu Ort und sammelten Gefolgsleute (und Blumen!). Manchmal waren wir nicht willkommen, manchmal begegnete man uns sogar ausgesprochen feindselig. Und dann gab es eben jene seltenen Momente, in denen Jesus seine besonderen Kräfte nicht aktivieren konnte. Doch je mehr sich sein Ruhm verbreitete, desto seltener kam das vor. Ruhm, so scheint es, nährt sich selbst. Fast könnte man sagen, dass Jesus in der Region regelrecht populär wurde – eine Berühmtheit. Die Menschen brüsteten sich damit, er habe persönlich zu ihnen gesprochen, sie hätten sein Gewand berührt oder seien von ihm gesegnet worden.
Gesegnet fühlten wir uns zu der Zeit alle. Das sollte nicht andauern, aber in der Zeit, von der ich hier spreche, haben wir alle – vor allem ich – eine Morgendämmerung empfunden, einen Aufbruch in eine neue Ära, ja eine Revolution. Die Sonne ging auf, Tau, der, wie wir wussten, vom heiligen Hermonberg kam, bedeckte das Land und ließ die Wüste erblühen, Bäume und Weinreben grünen, Getreide und Gemüse fruchten. Wenn ich heute, wie alte Männer es oft tun, des Nachts wach liege und an diese aufregende Zeit denke, sehe ich einen lächelnden Jesus, der Weisheit und Segen spendet und so leichten Schritts seines Weges zieht, dass Mühsal und Enttäuschungen, Dürren, Hungersnöte und Krankheiten vom Erdboden getilgt zu sein schienen. Meine Trauer war noch spürbar, aber sie war
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