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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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    Danach habe ich ihn zwei Jahre lang nicht wiedergesehen.
    In diesen zwei Jahren wohnten wir hauptsächlich im Haus meiner Mutter, solange mein Vater noch auf Reisen war. Von Antiochien aus war er durch Galatien nach Ephesus und Smyrna gezogen und schließlich, so wie er gehofft hatte, über die Ägäis nach Athen gesegelt. Doch trotz seiner Abwesenheit war er mir immer präsent, und ich lebte stets im Schatten der Gewissheit, dass ich mich früher oder später seinen Vorwürfen stellen musste. Als er dann jedoch zurückkehrte und von meiner Ehe erfuhr, weigerte er sich, mit mir zu sprechen oder Judith zu empfangen. Ich kann nicht sagen, dass wir es bedauerten, denn wir fürchteten seinen Zorn und seine herrische Art. Judith war zu der Zeit schwanger, und ich dachte, wenn das Kind erst geboren war, vor allem falls es ein Sohn sein sollte, werde er sich gewiss mit uns versöhnen, wenn vielleicht auch nur zögerlich.
    Inzwischen hörten wir Neues von Jesus. Andreas überbrachte die Nachricht. Die Essener hatten Jesus einer spirituellen Prüfung unterzogen, bei der er vierzig Tage lang in der Wüste leben oder es wenigstens versuchen sollte. Dort durfte er sich nur von wildem Honig, Heuschrecken und dem Fleisch und Saft bestimmter Kakteen ernähren und aus trüben Wasserlöchern trinken, er sollte sich Tag und Nacht ins Gebet versenken. Er bestand die Prüfung über die vollen vierzig Tage, was als eine ungeheure Leistung galt. Zum Lohn bot man ihm die Mitgliedschaft im Orden an. Jesus sollte sich auf der Stelle entscheiden, so war es Brauch. Sofortiger Beitritt oder sofortiger Abschied.
    In der Wüste habe Jesus, so berichtete er, jegliches Zeitgefühl verloren und einige Tage, er wusste nicht, wie viele, in einem ekstatischen Delirium verbracht – ein Zustand, in dem er glaubte, vom Teufel versucht zu werden. Aber er habe widerstanden. Daraufhin sei ihm Gott erschienen und habe zu ihm gesagt, er müsse den Orden verlassen und stattdessen in die Welt hinausgehen und predigen. Seine Aufgabe bestehe darin, den Menschen nahezubringen, was er durch das Studium der Heiligen Schriften, durch Gebet und Kontemplation gelernt habe. Gott habe ihm keine Wahl gelassen, es sei ein Befehl gewesen. Er solle sich der Armen, Unterdrückten, Kranken und Unglücklichen annehmen und ihnen die frohe Botschaft bringen, dass Gott sie liebe, dass ihnen ein Platz an Seiner Seite gewiss sei und alle Unbill, die sie im Leben erleiden müssten, später im Himmel ins genaue Gegenteil gewendet würde.
    Also hatte Jesus der Bruderschaft für den Unterricht gedankt und sich verabschiedet.
    Die ersten Monate nach seinem Aufenthalt in Qumran verbrachte er dann in Galiläa, wo er von einem Ort zum anderen zog und voller Leidenschaft predigte. Seine Zuhörer waren einfache Leute – Fischer, Landarbeiter, Zimmerleute, Steinmetze, Hausfrauen. Kamel- und Maultiertreiber, die gerade durch die Orte zogen, in denen er predigte, unterbrachen ihre Reise, um ihm zuzuhören, und wenn sie weiterzogen, trugen sie die Kunde von diesem neuen, andersartigen Prediger mit und verbreiteten sie. Vier oder fünf Gefährten, hieß es, zögen mit ihm durchs Land, kehrten gelegentlich in ihre Heimatorte zurück, schlössen sich ihm dann aber immer wieder an. Manchmal eilten sie ihm auch voraus, kündigten sein Kommen an und besorgten ihm ein Quartier. Manchmal zogen sie selbst aus, um seine Botschaft zu verkünden. Zwei Brüderpaare, die schon bald als seine ersten Jünger gelten sollten, die Fischer Simon Petrus und Andreas sowie Johannes und Jakobus, wichen ihm nicht von der Seite, und es wurden immer mehr, die sich ihm anschließen wollten.
    Das alles interessierte mich zwar, aber nicht an vorderster Stelle. Die Geburt unseres ersten Kindes stand bevor, und in die freudige Erregung mischte sich bald Sorge, denn je näher die Geburt rückte, desto schlechter ging es Judith. Ihre Beine waren geschwollen, und wenn sie vom Dorf in unser erhöht liegendes Haus zurückkehrte, fiel ihr das Atmen schwer. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen, aber auch ihr war die Sorge anzumerken, und als sich Judiths Zustand verschlechterte, war sie alarmiert. Als die Wehen einsetzten, wurde ich in den Garten verbannt, und die Frauen übernahmen das Kommando – meine Mutter, eine Dienerin und eine Hebamme, dann eine zweite Hebamme, dann die Apothekersfrau, eine Nachbarin, eine Wahrsagerin …
    Stunden vergingen. Schreie, Geflüster, eilige Schritte, das Geräusch von Wasser, das

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