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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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Weinblatt und ein Krug Ziegenmilch die Runde gemacht. Das hatte unsere schlimmsten Befürchtungen zerstreut, aber satt waren wir noch lange nicht.
    Ich saß neben Bartolomäus. Er war der Jüngste von uns und verlor schnell die Fassung. Er übertrieb maßlos, missdeutete alles und jedes, und das Einzige, was ihn bei der Stange hielt, war seine Bewunderung für Jesus.
    Wir alle standen zu Jesus. Wir waren eine Gemeinschaft, aber er war unser Anführer. Wir waren stolz auf seinen Ruhm, zumal etwas davon auf uns abfärbte. Wir mochten untereinander nicht immer einer Meinung sein, aber nach außen hin traten wir als Einheit auf. Bartolomäus jedoch war mehr als loyal. Er übte blinden Gehorsam. Er war in Jesus verliebt. In seinen Augen konnte Jesus nichts falsch machen. Für ihn war Jesus der Größte.
    »Hast du gehört, was Johannes über Jesus gesagt hat?«, fragte er mich. »Er hat gesagt, Jesus sei sein Herr und Meister.«
    Ich schüttelte den Kopf und wunderte mich über die blinde Begeisterung des jungen Burschen. »Ich wüsste nicht, dass er überhaupt etwas über Jesus gesagt hätte.«
    »Hast du denn nicht zugehört? Er hat gesagt, einer würde kommen, dem er nicht die Sandalen …«
    »Schnüren dürfe«, nahm ich ihm das Wort aus dem Mund. »Ich weiß. Damit hat er den Messias gemeint.«
    Bartolomäus verdrehte die Augen. »Idiot! Er meinte Jesus!«
    Ptolemäus, der
    reisende Evangelist,
    erzählt, wie
    Jesus den Teufel
    aus einem Besessenen
    treibt. Der Geist
    entfleucht in eine
    Schweineherde, die
    in Panik flieht,
    im See ertrinkt.
    Ich erinnere
    den Vorgang anders:
    Man verübelt uns
    die Flucht der Tiere,
    vertreibt uns,
    der Bauer flucht,
    beweint seinen
    Verlust, tobt,
    dem Wahnsinn nah.
    Wir fühlen uns
    schuldig. Wenn das
    Gottes Wege sind,
    bergen sie
    dunkle Geheimnisse.

Kapitel 11
    Bei den Frauen, die oft unter uns waren, handelte es sich manchmal um die Ehefrauen der verheirateten Jünger, doch die meisten zogen es vor, zu Hause zu bleiben, während wir umherzogen. Zwei oder drei von ihnen sahen die Affinität ihrer Männer zu Jesus überhaupt nicht gern. Andere Frauen schlossen sich uns an, weil sie sich Jesus zu Dank verpflichtet fühlten, nachdem er ein Familienmitglied, meist ein Kind, geheilt hatte. Wieder andere hofften selbst auf Heilung. Und dann gab es welche, die wohl in Jesus verliebt waren, geblendet von seinem guten Aussehen, seiner angenehmen Stimme, seinem Charme und seiner Aura. Die eine oder andere brachte ihm zuweilen etwas Besonderes zu essen, wartete auf eine Gelegenheit, ihm die Füße zu waschen oder ihm das Haar zu salben. Doch Jesus behandelte sie genauso distanziert und gütig wie uns alle, und ich hatte keinerlei Befürchtungen, dass die Anwesenheit von Frauen unserer Gemeinschaft je schaden würde.
    Sie kamen und gingen. Mal waren es mehr, mal weniger. Wenn Berichte von einem neuen Wunder die Runde machten, kamen immer welche hinzu, aber dann verschwanden sie wieder, bis das nächste Wunder geschah und neue kamen. Wir waren ein bunter Haufen. Es befanden sich ganz wunderbare Menschen darunter, aber auch zwielichtige Gestalten, Dummköpfe und Verrückte. Ich beobachtete die Unterschiede zwischen ihnen, verglich sie miteinander, bildete mir Urteile über sie und verteilte Plus- und Minuspunkte. Ich konnte nicht anders, das war meine Natur. Jesus selbst war auch einmal so gewesen, aber mittlerweile schienen für ihn alle gleich zu sein. Er hatte den beißenden Spott abgelegt, mit dem er seine Mitmenschen in Kindheits- und Jugendtagen überzogen hatte. Bei den Essenern, so schien es, hatte er Toleranz gelernt. Solange man ihn zu seinen Bedingungen als Anführer akzeptierte, war man willkommen; alle waren Geschöpfe Gottes, der sie wie ein liebender Vater in Seine Arme schloss.
    Eigentlich war diese unterschiedslose Offenheit gegenüber jedermann bewundernswert, und doch war es eine Haltung, die ich mir nicht zu eigen machen konnte. Nicht nur konnte ich sie mir nicht zum Vorbild nehmen, nein, ich konnte sie nicht einmal bewundern (obwohl mir mein Verstand sagte, dass ich es tun sollte). Sie widersprach meinem Ordnungssinn, und wenn ich ehrlich bin, fand ich sie nachlässig.
    »Wie kannst du diesen oder jenen ertragen?«, fragte ich Jesus manchmal.
    Meist lächelte er dann und sagte nichts. Oder so etwas wie: »Solange er mich erträgt, habe ich kein Problem mit ihm.«
    Wenn ich meine Abneigung zu emphatisch, zu deutlich vortrug, küsste er mich amüsiert auf die Wange und

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