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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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sagte: »Judas, mein Lieber, im Grunde deines Herzens bist du ein Pharisäer.«
    Wenn ich mich darum sorgte, wo unsere nächste Mahlzeit herkommen sollte, weil mich oft der Hunger plagte, zieh er mich der Kleingeistigkeit. Er sagte, ich solle mir an den Raben ein Beispiel nehmen, die weder säten noch ernteten und doch satt würden, weil der Herr für sie sorgte.
    Am liebsten hätte ich erwidert, dass dieses »Der Herr wird’s schon richten« nur für ihn kein Problem darstellte, da er bei den Essenern gelernt hatte, mit fast nichts auszukommen, während es für andere nicht so leicht war. Außerdem hätte ich ihm gern gesagt, er solle die Raben lieber einmal genau beobachten, statt blumige Sprüche über sie zu machen, denn obwohl sie selbstverständlich weder säten noch ernteten, hätten sie oft große Mühe, genug Futter zu finden.
    Inzwischen war seine Vormachtstellung jedoch unantastbar, auch für mich. Er war nicht mehr mein Freund aus Kindertagen. Ich brauchte ihn und akzeptierte ihn als meinen Anführer, auch wenn ich innerlich manchmal rebellierte. Also sagte ich nichts.
    Manchmal, wenn ich mit meiner Geduld am Ende war und mich über einen Gefährten beschweren wollte, der ein Faulpelz oder Dieb war, oder mehr Ordnung und Disziplin einfordern wollte, sagte er während eines Gesprächs etwas ganz Wunderbares oder hielt eine große Predigt, sodass ich nicht anders konnte, als den Mund zu halten, ihn zu bewundern und mich zu schämen. »Seht die Lilien auf dem Felde«, sagte er beispielsweise. »Sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht, und doch kommt selbst Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht ihrer Schönheit gleich.«
    Oft sprach er von denen, die »reinen Herzens« sind, und er selbst war das beste Beispiel dafür. Er gab dieser Haltung Sinn, indem er sie vorlebte. Das entsprach seiner Persönlichkeit – oder dem Teil seiner Persönlichkeit, den er sich bei den Ordensbrüdern in Qumran angeeignet hatte. Allerdings wusste ich oder glaubte zu wissen, dass er mit dieser Haltung im richtigen Leben nicht weit kommen würde, ohne Blessuren davonzutragen.
    Er fragte seine Anhänger nie nach ihren persönlichen Verhältnissen. Es gab unbotmäßige Beziehungen, sündige Verbindungen, aber er schien nichts davon zu wissen oder wollte es nicht wissen. Nur seine Botschaft zählte. Nach unserem Besuch bei Johannes dem Täufer bekamen Liebe, Nächstenliebe, Vergebung und Frieden einen höheren Stellenwert in dieser Botschaft. Die Düsternis und das Donnergrollen von Johannes’ Predigten, seine Drohungen und sein Mangel an Warmherzigkeit schienen Jesus zu helfen, in Abgrenzung dazu seinen eigenen Stil zu finden. Von Vipern und dergleichen war jedenfalls nichts aus seinem Munde zu hören, zumindest nicht zu dieser Zeit.
    Wir sollten uns kein Urteil über andere bilden. Wenn jemand Strafe und Verdammnis verdiente, so war es an Gott, dafür zu sorgen, nicht an uns. An uns war es, Mitgefühl und Verständnis aufzubringen und Vergebung zu üben. Wir sollten nicht nur unseren Nächsten lieben, sondern auch den, der uns hasste und uns übelwollte. Wenn jemand uns ins Gesicht schlug, sollten wir die andere Wange hinhalten. Wenn man uns um eine Münze oder unseren Mantel anbettelte, sollten wir ihm zwei Münzen geben, zwei Mäntel; was immer man von uns verlangte, sollten wir doppelt erfüllen.
    Selig seien die Armen und Sanftmütigen, denn ihnen gehöre das Himmelreich. Den Barmherzigen werde Erbarmen zuteil. Die Hungernden, Kranken, Armen und Trauernden würden satt, geheilt und getröstet. Wer reinen Herzens sei, werde Gott schauen.
    All das versprach er uns, und er tat es so überzeugend, so arglos und selbstverständlich, als gebe es eine göttliche Garantie dafür, verbrieft und versiegelt. Wer wegen seines Lebenswandels in seinem Heimatort gehasst und geschmäht würde, sollte sich nicht entmutigen lassen, sondern frohen Herzens sein, denn so sei es auch den alten Propheten ergangen, und dereinst würden wir Seite an Seite mit ihnen im Himmel sitzen.
    Wir waren ständig unterwegs, und es gefiel uns, vor allem denjenigen, die familiär nicht gebunden waren und sich nicht darum scherten, ob zu Hause Arbeit oder Geschäfte auf sie warteten. Jesus bevorzugte Dörfer und ländliche Gemeinden und mied die größeren Städte. Auch von Kasernen und Garnisonen hielt er sich fern. Manchmal sahen wir römische Soldaten, die am Rande der Menge seinen Predigten lauschten, aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie auf Befehl

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