Mein Name war Judas
zu ihm bringen, die er dann auf die Schnelle heilen solle. »Ich bin doch kein Flickschuster«, hatte er in letzter Zeit öfter gesagt. Als sich dann aber eine Menschenmenge vor Petrus’ Haus versammelte, die den Gelähmten herbeitrug, blieb ihm keine Wahl.
Was er dann tat, wurde später in verschiedenen Versionen kolportiert. In einer heilte er den Mann im Handumdrehen. In einer anderen versuchte er zunächst, sich davonzumachen, was aber nicht gelang, weil Hof und Straße bereits voller Menschen standen, die riefen, er solle »rauskommen und sich nützlich machen«. In einer dritten befand er sich in dem Zimmer unterm Dach, in dem er stets untergebracht war, und weigerte sich herauszukommen. Vom Dach führte eine Außentreppe zum Hof, und einige Männer aus der Menge erklommen diese Treppe. Oben angekommen rissen sie ein paar Ziegel aus dem Dach und ließen den Kranken in Jesu Zimmer hinab. Andere verschafften sich Zugang, indem sie die Tür aufbrachen.
Der Kranke, von seinen Freunden gestützt, wurde zu Jesus geführt. Er konnte nicht richtig sprechen, zitterte und murmelte unverständlich vor sich hin. Er versuchte, seine Hände wie zum Gebet zusammenzulegen, schaffte es aber nicht. Seine Hand- und Armbewegungen erinnerten an die eines Ertrinkenden, der vergeblich versucht, sich über Wasser zu halten.
Jesus sah ihn an und sagte ohne die Freundlichkeit und Warmherzigkeit, die ihn sonst auszeichneten: »Deine Sünden sind dir vergeben.«
Unter den Zuschauern befand sich auch ein Rabbi, der sich erst kürzlich über Jesus beschwert hatte, genau genommen über uns alle, weil wir seiner Meinung nach den Sabbat nicht heiligten, keine regelmäßigen Andachten hielten und Sakrilege aller Art begingen. Er hing über dem Loch im Dach und wollte nicht zu Jesus ins Zimmer springen, aber auch nichts verpassen. Er fragte: »Was soll das heißen: ›Deine Sünden sind dir vergeben‹? Nur der Herr kann unsere Sünden vergeben. Maßt du dir etwa an, Gott zu sein? Das ist ein Sakrileg!«
Jesus sah zu ihm hoch, dann sah er wieder den gelähmten Fischer an, der zitternd und schwankend vor ihm stand. Er nahm die Handgelenke des Kranken, hielt sie ganz fest und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das kein anderer verstehen konnte.
Was dann geschah, wird wiederum in verschiedenen Versionen kolportiert. Mal heißt es, der Mann sei auf der Stelle geheilt gewesen. Andere sagen, erst am nächsten Tag sei er genesen. Niemand bezweifelte jedoch, dass Jesus den Mann geheilt hatte und dass es ein Wunder war.
Der Mann konnte seine Arbeit wieder aufnehmen, mit dem Boot hinausfahren und seine Netze auswerfen, und Jesu Ruf – falls jemand ihn angezweifelt hatte – war wiederhergestellt und gefestigt, und zwar in ganz Galiläa. Immer mehr Menschen begannen, Jesus höher zu schätzen als Johannes den Täufer. Schließlich war Johannes trotz seiner gewaltigen Predigten und seiner rigorosen Taufen nicht in der Lage, Wunder zu vollbringen.
Mir gegenüber erwähnte Jesus diese Episode mit keinem Wort, als ich aus Nazareth zurückgekehrt war, obwohl ihm klar sein musste, dass ich davon gehört hatte. Auch meine mehrtägige Abwesenheit erwähnte er nicht. Er machte mir zwar keine Vorwürfe, aber ich spürte, dass er es mir übelnahm. Unser Verhältnis hatte sich abgekühlt, dafür stand er den Fischern jetzt näher – oder wollte mir diesen Eindruck zumindest vermitteln. Es waren einfachere Männer als ich, und vermutlich empfand er sie als loyaler, unkritischer, vertrauenswürdiger. Mir hatten diese Männer nie vertraut, für sie war ich ein verwöhnter Reiche-Leute-Spross, ein Snob, ein Skeptiker, verkopft und zu dumm, um ein Netz auszuwerfen, geschweige denn eins zu flicken. Als sie mir von der Heilung des Lahmen erzählten, klang es, als wollten sie mir eine Lektion erteilen.
Kurz darauf kamen einige von Jesu Familienmitgliedern überraschend in das Dorf am See und wünschten mit ihm zu sprechen. Auch sie hatten von dem Wunder gehört, und ich nehme an, dass sie an seinem Ruhm teilhaben wollten. Maria führte die kleine Gruppe an, während Josef das Ganze eher peinlich zu sein schien.
Jesus hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden zweiten Abend aus einem von Zebedäus’ Fischerbooten heraus zu predigen, ein paar Meter vom Seeufer entfernt, während sich die Zuhörer am Ufer versammelten. Dieses Mal war die Menge besonders groß. Jesus war tief in eins der Gebete versunken, die seinen Predigten immer vorangingen, als Jakobus mich
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