Mein Name war Judas
Jesus war gut gelaunt, ja fast aufgekratzt, und eröffnete uns die Neuigkeit nicht in Form einer feierlichen Proklamation, sondern in einem geradezu spielerischen Plauderton. Er wolle, so sagte er, ein zeitgemäßer Jakob sein, »ein einfacher Mann, der in Zelten wohnt«, wie es geschrieben steht. »Ihr seid meine Söhne, die zwölf Stammväter meines Volks.«
Als Erstes fiel mir dazu ein, dass Jakob einen Zwillingsbruder gehabt hatte, Esau, einen Grobian, dem Jakob das Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht abgekauft hatte. »Wer ist dein Esau?«, fragte ich.
»Es gibt keinen Esau«, erwiderte er und ergänzte nach kurzem Überlegen: »Außer vielleicht der Teufel, der mich in der Wüste versucht hat.«
Später, als wir allein waren, erzählte ich ihm, dass Andreas diesen Teufel in der Wüste für eine Wahnvorstellung hielt – verursacht von dem Kaktus, dessen Fleisch und Saft er zu sich genommen hatte.
Jesus lächelte. »Ich glaube eher, dass es etwas mit Hunger zu tun hatte.«
»Vierzig Tage nichts als Heuschrecken und wilder Honig – du musst völlig ausgehungert gewesen sein.«
»Ich meinte Hunger nach dem Göttlichen.«
Ich dachte darüber nach. »Verhungernde haben oft Visionen.«
»Und manchmal erscheint ihnen dann die Wahrheit.«
Kurz darauf machten wir uns auf den Weg, seinen Cousin Johannes zu besuchen. Auch er war inzwischen zum Prediger geworden. Seine Spezialität war die Reinwaschung von Sünden in den Fluten des Jordan, seine Predigten waren ernst und düster – ein Moralist, der den Weltuntergang voraussagte und auf Bestrafung und Selbstgeißelung bestand.
Er hatte sein Lager ein ganzes Stück südlich des Sees aufgeschlagen, an einer Furt der Karawanenroute von Jericho nach Amman. Ich glaube, dass Jesus den weiten Weg nicht scheute, weil er ein professionelles Interesse daran hatte, ihn zu sehen und zu hören, wobei Rivalität keine Rolle spielte. Wenn man sozusagen im gleichen Gewerbe tätig ist, muss man schließlich wissen, was die Konkurrenz zu bieten hat.
Wir ließen uns Zeit, und obwohl unser Weg am Fluss entlangführte, gingen wir meist zu Fuß und baten Fischer und Fährleute nur selten, uns ein Stück mitzunehmen. Unterwegs befragten wir die Leute, was sie von Johannes, dem Täufer, wie man ihn inzwischen nannte, gehört hatten. Auch in dieser Gegend fanden wir überall Menschen, die uns freundlich bewirteten und uns des Nachts in ihren Häusern aufnahmen.
Am letzten Tag der Reise schlugen wir unser Lager an einer Stelle auf, wo in Ufernähe Quellwasser aus dem Gestein tritt. Wir befanden uns in der tiefgelegenen Wüstenregion, durch die der Jordan aufs Tote Meer zufließt, aber an einem Ort wie diesem, mit Wasser aus einer unterirdischen Quelle, bilden sich grüne Oasen. Hier, in der Lichtung, gediehen üppige Gräser, Büsche und Blumen in allen Farben. »Warum führt er seine Taufen nicht hier durch?«, fragte ich.
»Zu flach«, sagte Jesus. »Er besteht darauf, die Menschen komplett unterzutauchen.«
»Aber hier ist es wunderschön.«
Jesus schüttelte den Kopf. »Dieses Wort fehlt im Vokabular von Johannes.«
Am nächsten Vormittag erreichten wir die Furt. Johannes war an Ort und Stelle und gerade dabei, einigen Leuten eine geharnischte Rede zu halten. Er sagte, sie müssten begreifen, dass der Akt, der nun folgen sollte, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen sei, vielmehr handle es sich um die vollständige Erlösung von der Sünde. Er stand bis zu den Knien im Wasser, hatte die dürren Arme hoch über den Kopf erhoben und blickte auf das Grüppchen, das sich am Ufer auf die Taufe vorbereitete. Hinter Johannes war der Fluss weit und braun, fedriges Papyrus und staksiges Schilf wogten am gegenüberliegenden Ufer im Wind. Jenseits des Grünstreifens lag nichts als unfruchtbarer Wüstensand und trockenes Gestein.
Johannes hatte sich seit unseren Kindertagen so verändert, dass ich ihn nicht wiedererkannt hätte. Er war so braun, dass seine Haut fast schwarz aussah, und so dünn, wie es nur jemand sein konnte, der sich ausschließlich von der Wüste ernährte. Bart und Haupthaar hatte er seit mindestens fünf Jahren nicht geschnitten. Während er sprach, wischte er sich immer wieder zottelige Strähnen aus den Augen oder dem offenen Mund. Er trug ein Lendentuch und über der Schulter ein Tau aus geflochtenem Kamelhaar, das an der Hüfte von einem Lederriemen gehalten wurde und nach unten hin vor seinen dürren Beinen baumelte. Auf dem Kopf trug er nichts.
Ich
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