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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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erträglich. Jederzeit konnte mich die Erinnerung an Judith wie eine Schmerzattacke überfallen, aber wenn das geschah, brauchte ich mich bloß an meinen Freund zu wenden, und er tröstete mich. Selbst wenn ich ihn deswegen des Nachts weckte, beklagte er sich nicht und enttäuschte mich nie.
    Jesus, so fanden wir, hatte einfach Glück gehabt, dass er so begabt geboren worden war, obwohl das natürlich eine höchst banale Betrachtungsweise für jemanden war, der seine Begabung dem Himmel selbst zu verdanken glaubte. Obwohl es sein »Glück«, seine Begabung war, ging er großzügig damit um und ließ uns daran teilhaben.
    Selten waren wir außer Sichtweite des Sees Genezareth oder des Jordan, und wenn die Fischer einen schlechten Fang gemacht hatten und sich darüber beklagten, stieg Jesus  – ohne etwas vom Fischen zu verstehen – oft zum Ufer hinab und sagte: »Versucht es auf der anderen Seite des Boots.« Oder er riet ihnen, in den Schatten zu rudern, den eine Wolke aufs Wasser warf. »Es ist ein Fingerzeig«, sagte er.
    Die Fischer schimpften und sagten, das habe keinen Zweck, sie hätten schon alles versucht, es gäbe heute einfach keine Fische, doch grollend befolgten sie seinen Rat, und nicht selten zogen sie dann volle Netze ins Boot.
    Wenn dann jemand »Ein Wunder!« rief, lachte Jesus und erwiderte: »Unsinn! Ihr wollt bloß nicht zugeben, dass ich ein besserer Fischer bin als ihr.«
    Es kam vor, dass wir den ganzen Tag gewandert waren, ohne einen Bissen zu essen, und wenn wir dann gegen Abend erhitzt, müde und missmutig einen Ort erreichten, den wir kaum kannten, fürchteten wir, man werde uns dort nichts zu essen geben. Doch dann wimmelte es auf der staubigen Straße plötzlich von Kindern, die uns begrüßten und willkommen hießen, Blumen auf unseren Weg streuten und sagten, man habe uns schon erwartet und eine Stärkung für den Propheten Jesus und seine Freunde vorbereitet.
    Angesichts solcher Erlebnisse konnten wir gar nicht anders, als Jesus von Gott gesegnet zu betrachten, und durch unsere Nähe zu ihm betrachteten auch wir uns als gesegnet.
    Jesus war äußerst geschickt im Umgang mit Besessenen und galt bald als jemand, der böse Geister bezwingen konnte. Er hatte nicht die geringsten Berührungsängste. Auch wenn die Betroffenen wüteten oder ihm drohten, ergriff er nicht die Flucht. Stattdessen ging er langsam auf sie zu und redete mit seiner wunderbaren Stimme ganz ruhig mit ihnen, wie mit jedem anderen auch, und wenn er konnte, nahm er sie bei der Hand. Manchmal tat er dann das Gleiche wie sie – tanzen (er war ein eleganter Tänzer), singen oder was immer. Dann wurden sie sichtlich ruhiger. Es funktionierte jedes Mal. Diejenigen von uns, die diese Szenen beobachteten, sagten hinterher, sie hätten gesehen, wie er den Leuten die bösen Geister austrieb. Dann setzten wir unsere Wanderung fort, ohne je zu prüfen, ob die bösen Geister nicht vielleicht doch zurückkehrten. Auch diese Begegnungen machten dann die Runde, und die Geschichten verloren beim Weitererzählen nichts von ihrer Faszination.
    Die Freunde und Unterstützer, die ihn begleiteten, wann immer sie konnten, Frauen wie Männer, wurden immer zahlreicher, und Jesus beschloss, es solle zwölf geben, die sozusagen als seine »offiziellen« Begleiter fungierten. Er entschied sich für zwölf, weil es eine Gruppe ergab, die nicht zu groß war, um von den Dorfbewohnern bewirtet zu werden. Andererseits waren wir zu zwölft genug Leute, um uns im offenen Gelände gegenseitig zu schützen, und wenn der eine oder andere vorübergehend abwesend war, weil er zu Hause etwas zu erledigen hatte oder arbeiten musste, blieben immer noch genügend von uns übrig. So weit das Praktische. Der andere Grund, warum wir zwölf sein sollten, war die Anzahl der Söhne Jakobs, die Väter der zwölf Stämme Israels.
    Ich erinnere mich noch an den Tag, als er uns diese Entscheidung mitteilte. Es war um die Mittagszeit, und wir rasteten im Schatten einer Akazie. Die Farben – das Grün des Sees, das Purpurrosa der Hügel am anderen Ufer, oberhalb von Kapernaum – waren eine Augenweide und wurden von der hoch stehenden Sonne ins Pastell gedämpft. Jesus hatte im nahen Dorf eine Predigt gehalten, und wir wollten nun die Wegzehrung zu uns nehmen, die die Dörfler uns mitgegeben hatten.
    Es waren genau wir zwölf, keiner fehlte, und es war keiner von außerhalb unseres Kreises dabei, was vor unserem verhängnisvollen Einzug in Jerusalem selten vorkam.

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