Mein Name war Judas
glaube, er sah uns sofort und erkannte Jesus, aber er fuhr unbeirrt mit seiner Predigt fort, ein wenig lauter sogar und mit einer immer düstereren Botschaft. Er sprach von »Religionsreisenden«, die herkämen, »um dem verrückten Johannes bei seinen Taufen zuzusehen und sich darüber zu amüsieren«. Sollten sich solche unter den Zuhörern befinden (ich zuckte unwillkürlich zusammen und mied seinen Blick), so seien es Vipern und keine Menschen, und sie könnten nicht erwarten, dass ihnen die heutige Taufe später im Himmel von Nutzen sein werde.
Dann widmete er sich noch übleren Vipern: Herodes und seinen Nachkommen, die Schande über das Volk Israel gebracht hätten, indem sie sich zu seinen Königen aufspielten, sowie den Tempelpriestern, die Israels Gott beschämten, indem sie sich zu Seinen Dienern ernannten.
Konnte es sein, fragte er, dass ein wahrer König der Juden sich dem Schutze Roms unterstellte? Würde ein wahrer König der Juden Gottes Gesetz so missachten, dass er dem eigenen Bruder die Frau wegnahm?
Das sei die Schande Israels. Auf uns müsse sie jedoch nicht zurückfallen. Wir könnten ihr den Rücken kehren, so wie er es getan habe. Jeder, der in gutem Glauben zu ihm gekommen sei, habe bereits die beste Absicht bekundet.
»Tut Buße!«, mahnte er. »Geißelt eure Seelen! Geißelt eure Herzen! Erniedrigt euch vor Gott! Zerstört den Sünder, der in euch wohnt, auch wenn so wenig von euch übrig bleibt, dass es kaum noch zum Leben reicht!
Ihr denkt, meine Stimme sei mächtig«, brüllte er. »Doch ich sage euch, ich bin nur ein Wurm, der vor einem tobenden Ochsen winselt. Ich bin eine Fliege, die mit fadendürren Beinen über stehendes Wasser läuft, während sich ein Sturm zusammenbraut, der jeden Moment losbricht. Denn kommen wird einer, und das bald, dessen Sandalen zu schnüren ich nicht wert bin. Ich kann euch mit Wasser taufen, doch er wird euch mit Feuer taufen. Ich kann euch mit Worten zur Buße führen, doch er wird die Spreu vom Weizen trennen, die Schafe von den Ziegen. Er wird den Tempel schleifen und die Welt zerstören. Er bringt uns ans Ende der Zeit.
Wer bin ich? Nur ein Prophet. Nur eine Stimme in der Wildnis. Aber ich warne euch und spreche die Wahrheit. Hört auf mich! Tut Buße! Lasst euch taufen, auf dass ihr errettet werdet!«
Alle sagten Amen und Halleluja, und dann stürmten wir vorwärts und folgten Johannes, der bis zu den Hüften ins tiefere Wasser watete und den Herrn anflehte, uns die Sünden zu vergeben, uns zu reinigen und zu segnen, worauf er uns mit Schultern und Kopf unter Wasser drückte und uns eine Weile so hielt – länger als nötig, wie mir schien, denn es war ja lediglich eine symbolische Reinigung, kein Badetag.
Als ich wieder auftauchte, hatte sich die Welt für mich nicht geändert, außer dass ich völlig durchnässt und ziemlich außer Atem war. Jesus hatte die Prozedur genauso mitgemacht wie alle anderen, und Johannes ließ sich nicht anmerken, dass er ihn kannte, ehe alles vorbei war und die Menge sich zerstreute.
Die Cousins hatten einander immer nahegestanden, aber es gab auch Differenzen unter ihnen, schon von Kindheit an. Jesus fand Johannes verbohrt, schroff und nicht besonders belesen. Johannes dagegen fand Jesus oberflächlich, zu nachgiebig in Bezug auf die Vergebung der Sünden und zu verschnörkelt in seinen Gleichnissen, Rätseln und Vergleichen. Trotzdem küssten sie sich zur Begrüßung, freuten sich über das Zusammentreffen und setzten sich, um sich miteinander zu unterhalten.
Das halbe Dutzend von uns, das Jesus begleitet hatte, setzte sich etwas abseits unter einen Baum. Eigentlich bewegte uns hauptsächlich die Frage, wann und wo wir etwas zu essen bekommen würden – wir hatten noch nicht einmal gefrühstückt –, denn auf Johannes’ Heuschrecken waren wir nicht gerade erpicht, zumal sie roh sein würden, weil er gegartes Essen grundsätzlich ablehnte, sogar Brot. Auf dem Weg hierher hatten wir darüber gesprochen, und Jesus hatte gesagt, was er immer sagte: Wir sollten nicht so viel übers Essen und Trinken nachdenken, Gott werde schon dafür sorgen.
» Johannes wird dafür sorgen«, korrigierte ich. »Das ist es ja, was mir Sorgen macht.«
Jesus lächelte. »Nach meinen Erfahrungen in der Wüste kann ich dir versichern, dass es kaum etwas Schöneres gibt als einen Mund voller knuspriger Heuschrecken, vor allem wenn man hungrig ist.«
Nach dem Untertauchen hatten ein paar Feigen und wilder Honig auf einem
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