Mein Name war Judas
her und begannen sie aufzufressen, bevor sie den letzten Atemzug getan hatten.
Diese Berichte eines Aufruhrs, der sich mittlerweile auf ganz Judäa erstreckte und bis nach Galiläa hineinreichte, setzen mir zu, und ich beweine das Schicksal der Heiligen Stadt, meiner Heimat und meines Volkes. Ich frage mich, wie es meiner Familie und meinen Freunden wohl geht, und mein einziger Trost ist, dass die meisten, die mir einst nahestanden, bereits tot sind. Doch es schmerzt mich, dass alles, was die Welt meiner Kindheit ausmachte, nun zerstört und verschwunden ist. Ich danke Gott oder meinen Sternen oder dem Schicksal oder wer immer dafür zuständig ist, dass es mir gelungen ist, jemand Neues zu werden, eine neue Heimat zu finden, dass ich eine Frau gefunden habe, die mir Kinder schenkte, die wieder Kinder bekamen, und dass ich in Frieden leben kann.
Ptolemäus – seit ich weiß, dass er Bartolomäus ist, beobachte ich ihn aufmerksamer als zuvor – nimmt die Berichte mit der strengen Miene eines Richters zur Kenntnis. »Dieser Niedergang«, sagt er, »war voraussehbar. Der Herr hat Seinen Sohn gesandt, um über Israel zu herrschen, aber unser Volk hat ihn den Römern ausgeliefert, damit sie ihn kreuzigten. Es war nicht zu erwarten, dass der Himmel uns und unseren Tempel nach einem derartigen Verrat weiter beschützen würde.«
Obwohl er das ganz kühl sagt, sogar mit einer gewissen Befriedigung, und es gewiss ernst meint, glaube ich zu spüren, dass auch er schockiert ist, vielleicht sogar traurig.
Heute Nachmittag sind wir alle, selbst Theseus und Autolykus, zu dem kleinen Platz gegangen, wo sich jetzt regelmäßig eine Gruppe um Ptolemäus schart, die sich als »Christen« bezeichnet – Menschen, die sich ohne großes Zeremoniell in einem Brunnen taufen lassen, dessen breiter Rand Ptolemäus als Rednerplattform dient. Esra hat darum gebeten, die Predigt einmal selbst zu halten, und Ptolemäus hat es ihm gnädig erlaubt, wenn auch zögerlich.
Esra sprach zu den einfachen Leuten von einem Wunder, das Jesus vollbracht habe, ein Wunder, das erneut den Beweis dafür liefern sollte, dass Jesus der Sohn Gottes sei, ausgestattet mit der Kraft, die Menschheit zu erlösen. Eine große Menge (»mindestens fünftausend«) sei Jesus zu einem abgelegenen Ort unweit des Sees Genezareth gefolgt, wo er eine Predigt hielt, in der er den Menschen versicherte, obwohl sie arm seien, stünde ihnen das Himmelreich offen, während den Reichen der Zutritt verwehrt bleibe, zumindest den meisten. Nur ein reicher Mann, der tugendsam gelebt und viel den Armen gegeben habe, werde aufgenommen, aber erst nachdem der letzte Arme seinen Platz im Haus des himmlischen Vaters eingenommen habe. Diese Kunde, so Esra, sei von den Galiläern freudig aufgenommen worden, und Jesus habe sie beten gelehrt.
Dann aber hätten die Jünger darauf hingewiesen, dass nicht genug zu essen für alle da war, und vorgeschlagen, alle sollten nach Hause oder in die nächstgelegenen Dörfer gehen, um dort ihr Abendessen einzunehmen.
Jesus habe gefragt, welche Vorräte noch da seien, und man habe ihm fünf Laibe Brot und zwei Fische gezeigt. Darauf habe er der Menge befohlen, sich in Gruppen von zwanzig bis dreißig aufzuteilen und pro Gruppe einen Abgesandten zu einem Tisch zu schicken, den die Jünger mit den unzureichenden Nahrungsmitteln decken sollten.
Dann habe Jesus das Brot gebrochen und gesegnet, worauf aus den fünf Laiben erst fünfzig, dann fünfhundert und so weiter geworden seien. Das Gleiche sei mit den Fischen passiert, erst seien es zwanzig, dann zweihundert und noch mehr geworden. Der Tisch sei von Nahrung nur so übergequollen, und sobald die Abgesandten, die sich in Reih und Glied aufstellten, die Rationen der einzelnen Gruppen vom Tisch genommen hätten, seien neue Brote und Fische erschienen. Innerhalb einer einzigen Stunde hätten alle fünftausend glücklich in der Nachmittagssonne gesessen und sich satt gegessen gehabt.
Manchmal stockte Esra beim Erzählen, als könne er die Geschichte selbst kaum glauben. Jede neue Einzelheit schien ihn in Erstaunen zu versetzen. Ich war peinlich berührt, auf die Art, die wohl jeder kennt, der einen öffentlichen Redner einmal hat scheitern sehen. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was ihm durch den Kopf ging. Wurde der Fisch roh verspeist? Gab es nichts zu trinken? Als das Mahl vorbei war, sollen zwölf Körbe voll Abfall übrig geblieben sein – doch woher waren plötzlich diese Körbe gekommen?
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