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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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bewegte Wasser. »Mir ist klar, dass einige von euch es nicht tun.«
    Ich war schockiert. Glaubte er es etwa selbst schon? »Sollten wir?«, fragte ich. »Tust du es?«
    Als er nicht antwortete, wiederholte ich, was Jakobus angeblich auf dem Berggipfel gehört hatte. »›Das ist mein auserwählter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.‹ Ist es das, was du willst? Wir sollen dich als unseren Herrn anbeten?«
    Er machte ein ernstes Gesicht und nahm meine Hand. Für einen kurzen Moment war er nicht mehr Jesus von Nazareth, der große Redner und Anführer unserer Gemeinschaft, der Hoffnungsträger der Armen und Beladenen, der Umstürzler, der die herrschende Ordnung bedrohte, sondern mein alter Schulfreund, der nicht wusste, was er tun oder sagen sollte. Dann fing er sich und sagte: »Ich habe diese … Kraft .«
    »Du verfügst über die Kraft des Wortes.«
    »Die Kraft zu heilen .«
    »Manche werden wieder gesund, das stimmt. Aber ist es dein Verdienst?«
    »Nein, es ist Gottes Verdienst.« Er sah mich unverwandt an und wiederholte: »Gottes Verdienst.« Dann hob er die Stimme. »Aber Er handelt durch mich .«
    Ich glaube, in diesem Moment hatte ich zum ersten Mal Angst um ihn – Angst um seinen Verstand und vor allem Angst um seine Sicherheit, damit verbunden aber auch Angst um unsere Sicherheit. Ich wollte ihm sagen, dass er uns alle in Gefahr brachte, aber das schien viel zu kleingeistig zu sein. Was bedeutete schon Gefahr, wenn man der Messias war?
    Jesus sagte: »Wenn ich diese Kraft in mir spüre, wenn ich Sätze sage, die ich mir nicht selbst überlegt habe, Worte, die nicht meine eigenen sind, sondern Gottes Worte …«
    Er sprach nicht weiter, und auch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wenn er predigte, benutzte er oft Worte, die nicht seine eigenen waren, sondern vielmehr seine Version der wunderbaren Texte, die wir als Schüler auswendig gelernt hatten. Auf ihnen basierte seine Wortgewalt. Sein Genie bestand darin, diese Texte spontan zu variieren und umzuformulieren, aber er schien nicht zu sehen, dass es seine eigene Leistung war. Er glaubte, eine äußere Macht spräche durch ihn, benutzte ihn als Sprachrohr.
    Da saßen wir also in der Sonne, zwei alte Freunde, von denen der eine anfing, sich als Gottes Sohn zu sehen. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt: Zu Anfang hattest du eine Botschaft, und jetzt glaubst du, du seist die Botschaft. Doch das schien mir zu hart zu sein.
    »Schau«, sagte er und zeigte durch die Ritze zwischen zwei Planken. Ein silbergrauer Aal räkelte sich im Schatten des Stegs und streckte sich nach den Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen fielen. Er bewegte sich hierhin und dorthin, ohne von der Stelle zu kommen.
    Ich beobachtete ihn und dachte an die fünf Bücher Moses mit der Schöpfungsgeschichte. Ich fragte mich, in welcher Geistesverfassung man sein musste, um sich selbst als Akteur dieser Geschichte zu sehen, als »Sohn Gottes, des Schöpfers«. Es war lächerlich. Lächerlich und peinlich.
    Ganz in Gedanken versunken dachte ich plötzlich an die Sintflut und dass Noah keine Aale und Fische oder anderes Meeresgetier mit auf die Arche hätte nehmen müssen. Warum hatte er das nur getan?
    Jesus stand auf. Er bewegte sich so zielstrebig, als hätte er soeben einen Entschluss gefasst. Er sagte: »Wir müssen abwarten, was passiert. Wir müssen Geduld haben. Zerstöre nicht durch Furcht, was wir erschaffen! Wir müssen an uns glauben. Glaube und sei glücklich!«
    »Glücklich sein« war eins seiner großen Themen jener Tage. Immer noch strahlte er manchmal den unschuldigen Optimismus und die Hoffnung seiner Anfänge aus, als Bäume und Büsche zu erblühen schienen und die Vögel zu singen begannen, wenn er an ihnen vorbeiging. In solchen Momenten war er der Hirte, der seine Herde zu reichen Weidegründen führte, die Taube über dem Wasser, das Licht im Dunkeln, das Fleisch gewordene Wort.
    Natürlich hatte er auch Kritiker, selbst unter seinen eigenen Leuten. Die Pharisäer warfen ihm vor, er gestatte seinen Anhängern die Völlerei und verlange nichts von ihnen, außer zu glauben, er missachte den Sabbat, wenn er Kranke heile, erlaube den Leprakranken, ihn zu berühren, und er unterhalte sich mit Frauen, die er gar nicht kenne. Sie sagten, er vernachlässige die Reinigungsrituale und pflege Umgang mit Huren und Steuereintreibern.
    Als wir einmal an einem Sabbat nach Kapernaum zurückkehrten, nahmen wir eine Abkürzung durch ein Kornfeld. Wir hatten nicht gefrühstückt,

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