Mein Name war Judas
Wer hatte sie gebracht und warum? Ich glaube, den Tisch hatte Esra aus praktischen Gründen erfunden – doch wie war er an diesen »abgelegenen Ort« gekommen? Und was für ein Tisch soll es gewesen sein, der solche Mengen fassen konnte? Das Brot und die Fische, die sich in Esras Schilderung unentwegt vermehrten, hätten an allen Seiten vom Tisch herunterfallen, in den Dreck, und von den Fünftausend zertrampelt werden müssen.
Die Zuhörer waren unruhig. Manche machten skeptische Gesichter und taten sich schwer, die Geschichte zu glauben oder auch nur zu verstehen. Einer sagte: »Mir gefiel der Alte besser, der Blinde. Dieser hier taugt nichts.«
Auch Ptolemäus schien nicht recht wohl zu sein.
»Ich weiß, es ist schwer zu verstehen«, sagte Esra. Er schwankte auf dem Brunnenrand vor und zurück und griff nach dem Zweig eines nahen Baums, um sich daran festzuhalten. »Doch wir müssen es versuchen. Es ist eine Prüfung, die der Herr uns durch Seinen gesegneten Sohn, durch Jesus, unseren Erlöser, auferlegt. Glaubet, meine Freunde, auf dass ihr errettet werdet! Und nun lasst uns beten …«
Am Abend nahm ich Ptolemäus am Arm und machte mit ihm einen Spaziergang. Seinem jungen Helfer, Reuben, gab ich frei und sagte ihm, er solle sich in einem Wirtshaus oder einer Taverne vergnügen. Wir gingen langsam, lauschten dem ruhigen Wellenschlag des Meeres und genossen die salzige Luft. Ich beschrieb ihm die Szenerie: seidenschwarzes Wasser, auf dem die Spiegelungen der Lichter vom Pier tanzten; Netze, die zum Trocknen über Holzgestellen aufgespannt waren; Fischerboote, die unweit vom Ufer ankerten, bereit, im Morgengrauen wieder auszulaufen; hier und da die Laterne eines Nachtwächters. Vor einer Taverne mit Tischen im Freien blieben wir stehen und hörten den Musikern zu, die Saiteninstrumente spielten und traurige griechische Balladen sangen.
Dann ließen wir den bebauten Teil des Ufers hinter uns, und ich musste wieder an die Neuigkeiten aus Jerusalem denken. Die Jesusgeschichten mit der Verheißung eines paradiesischen Daseins nach unserem Tode machten mich wütend. Für mich waren es leere Versprechungen, meiner Meinung nach sollten uns die damit verbundenen Drohungen von den Grausamkeiten ablenken, die Menschen anderen Menschen im wirklichen Leben antun.
Ich fragte: »Hast du dich jemals gefragt, warum der Gott Israels die Römer so begünstigt?«
Ptolemäus antwortete nicht gleich, aber nach einer Weile sagte er: »Vor langer Zeit kannte ich jemanden, der auch solche Fragen stellte, mit demselben ungläubigen Unterton.«
»Ein Mann von gesunder Skepsis, nehme ich an.« Ich bemühte mich, mit tieferer Stimme zu sprechen, nachdem ich mich geräuspert hatte, um den Stimmwechsel plausibel zu machen.
Wieder schwieg er eine Weile. »Kenne ich dich?«, fragte er dann.
»Gewiss, ich bin dein Gastgeber.«
»Natürlich. Ich meine, von früher …«
»Ich fürchte, nein«, log ich. Dann fragte ich ihn, ob ihn Esras Predigt beeindruckt habe.
»Es ist noch neu für ihn«, sagte Ptolemäus. »Er muss noch lernen, seine Geschichten aufs Wesentliche zu reduzieren und sich nicht in Details zu verlieren.«
»Ein Tisch an einem so abgelegenen Ort – das war nicht besonders glaubwürdig.«
Ptolemäus sagte nichts, und ich fragte ihn: »Hat dieses Wunder wirklich stattgefunden?«
Ich stellte ihn auf die Probe. Ich wusste, dass es niemals eine Menge von fünftausend Menschen gegeben hatte, keine wundersame Vermehrung von Broten und Fischen, keine Speisung solcher Massen. Ptolemäus musste es auch wissen.
»Es hat ein Wunder gegeben«, sagte er.
Schmunzelnd registrierte ich, dass ich ihn ertappt hatte, doch er fügte hinzu: »Das Wunder des Teilens .«
»Warst du dabei?«
»Man hatte den Menschen gesagt, sie sollten etwas zu essen mitbringen, aber viele waren arm, und so kam nicht viel Essbares zusammen … nicht genug für eine Menge von drei, vier Dutzend.«
Ich unterbrach ihn. »Drei oder vier Dutzend? Esra sprach von fünftausend.«
Ptolemäus blieb ungerührt oder tat jedenfalls so. »Viele Geschichten verändern sich beim Erzählen. Das ändert aber nichts an ihrem Gehalt. Kleinigkeiten wie Zahlen spielen keine Rolle.«
»Aber Glaubwürdigkeit spielt eine Rolle.«
»Ein Wunder ist nun mal ein Wunder. Es wird immer Zweifler und Ungläubige geben. Fünf oder fünftausend – bei dieser Geschichte geht es nicht um Zahlen.«
»Worum dann?«
»Was Jesus uns an jenem Tag klarmachen wollte, war Folgendes:
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