Mein Name war Judas
ein Verstoß gegen die Gebote Gottes. Dieser sogenannte König der Juden, Herodes Antipas, sei gar kein König, sondern nur einer von vier Provinzfürsten, also allenfalls ein »Viertelkönig«. Er sei auch kein Jude, sondern ein Idumäer und vor allem eine Marionette Roms. Er solle von seinem Thron gestoßen und zu einem Sklaven degradiert werden, der die Galeeren rudert. Er solle gesteinigt werden … Und immer so weiter.
Herodes verlor keine Zeit. Er entsandte bewaffnete Männer an die Furt. Sie fanden den schlafenden Johannes in einer Höhle, zerrten ihn heraus und wehrten seine Anhänger ab, die ihn retten wollten. Dann schafften sie ihn in Ketten auf die Festung, wo man ihn in das tiefste Verließ warf.
Die Festung Machaerus war überaus eindrucksvoll. Sie lag auf einem Bergrücken, und ihre massiven Mauern überblickten das Tote Meer und die Wüste Judäas nach Westen hin, nach Osten hin die kahlen Hügel des Nabatäerreichs. Der Gedanke, dass Johannes dort gefangen war, entsetzte uns alle, aber Jesus ganz besonders, und gleich als er von der Tragödie erfahren hatte, machte er seiner Empörung in einer Predigt Luft, die er am Abend von Zebedäus’ Boot aus hielt.
»Wenn unsere Herrscher von einem Propheten hören, dessen Stimme sich in der Wildnis erhebt, und sie Spione nach ihm ausschicken, was erfahren sie dann über ihn? Dass er sich mit seiner Meinung zurückhält, nicht schlecht über Sünder spricht, sondern schwankt wie ein Schilfrohr im Wind? Dass er in Samt und Seide gekleidet ist und von silbernen Tellern isst? Silber und Seide und gewissenloses Geschwätz – das ist ihre Art, nicht die des Propheten. Mein Cousin Johannes ist ein Prophet, ein tugendsamer, wahrheitsliebender, gottgefälliger Mann.
Wenn Gott uns jemanden schickt, der uns den Weg zur Erlösung weist und uns vor Fallstricken entlang dieses Weges warnt, kommt dieser Mann dann auf Sammetpfoten daher und spricht nur im Flüsterton? Nein, er wettert, wie Johannes zu wettern pflegt. Er ist wie der Blitz, der die knorrigste Eiche fällt.
Johannes’ Festnahme ist ein Schlag gegen das Königreich des Himmels.«
Jesus schien seine eigene Wut zu verarbeiten und griff sogar sein eigenes Volk in den Städten und Dörfern Galiläas an, das, wie er sagte, Johannes’ Verhaftung akzeptierte und nicht dagegen aufbegehrte.
Dann fragte er, ob uns eigentlich klar sei, dass wir bei dem Versuch, den Zorn Roms nicht auf uns zu ziehen, den ungleich schlimmeren Zorn Gottes auf uns zögen? Wir riskierten eine ebenso fürchterliche und berechtigte Rache Gottes, gegen die Feuer und Schwefel, die über Sodom niedergingen, nur ein lauer Regen seien. Nichts und niemand bleibe davor verschont, auch nicht Kapernaum.
»Sie wird kommen«, rief er. »Es wird geschehen. Du wähnst dich in Sicherheit, Kapernaum? Vor dir mache Gottes Rache halt? Darauf solltest du nicht zählen!«
Seine Augen blitzten. Mit einer Hand hielt er sich an einer Leine des Mastbaums fest und beugte sich aus dem Fischerboot, der kleinen Menge entgegen, die am Ufer saß und ihm lauschte, verstört und verschreckt und kaum in der Lage, ihm zu folgen. Jesus schrie inzwischen so laut, dass die Frösche verstummt waren. Die Hügel selbst schienen den Atem anzuhalten. Die Schakale hörten auf zu bellen. Nur der leise Wellenschlag des Sees war zu vernehmen.
Jesus schloss die Augen und schien still für sich zu beten. Als er die Stimme wieder erhob, hatte sich sein Ton verändert. Er sprach tief und heiser. Es klang wie ein angestrengtes Flüstern. »Was ich euch verkünde, geschieht im Namen des Himmels. Ich bin der Sohn, der für den Vater spricht. Wenn Sorgen euch drücken, bringt sie zu mir. Das ist der Wille des Vaters. Ich nehme eure Last von euch. Ich trage euer Joch. Meine Botschaft ist Liebe, die Liebe meines Vaters.«
Ich glaube, ich war nicht der Einzige, der alarmiert und verwirrt war. Feuer und Schwefel sollten über sein geliebtes Kapernaum kommen? Eine Strafe, die schlimmer war als die von Sodom? Und dann diese Kehrtwendung nach seinem Gebet, als hätte eine Stimme, die nur er hören konnte, obwohl angesichts seiner Drohungen Totenstille herrschte, ihn daran erinnert, dass er Jesus, der Gute Hirte, war und nicht Johannes, die Geißel der Sünder.
Doch dann geschah etwas, das mich aus meinen Gedanken riss. Als die Menge sich zerstreute, kam Jakobus zu mir, um mir zu sagen, dass im Schatten eines Baumes schon die ganze Zeit ein Mann wartete, der gekommen sei, um mir eine
Weitere Kostenlose Bücher