Mein Name war Judas
ich, dass er etwas anderes meinte.
»In Jerusalem«, sagte er. »Aber vorher gibt es noch viel zu tun.«
»Wir alle?«
»Wir alle.«
Schon als Kind
hasste ich
das Zeremoniell,
bei dem man einer Ziege
symbolisch die Sünden
ans Horn steckte,
die man im Dorf
begangen hatte. Man
steinigte und vertrieb sie
blutend. Sollte sie doch
sehen, ob sie in der
Wildnis überlebte!
Für mich war das
Tier ein Freund, doch
man sagte: »Von unseren
Sünden sind wir für
ein Jahr befreit,
dank der Ziege.«
Jesus, denke ich
jetzt, wollte der
Sündenbock sein,
die Sünden des
Dorfes und der Welt
auf sich zu nehmen.
Kapitel 16
Wenn man siebzig ist, träumt man nachts häufig von Menschen, die längst gestorben sind – eine gute Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Oft träume ich von Thea, von unseren ersten gemeinsamen Jahren, als die Kinder noch klein waren. Manchmal reichen meine Träume aber noch weiter zurück, dann träume ich von Judith oder sogar von meiner Kindheit. Bisweilen kreisen meine Träume tage- oder wochenlang um ein einziges Thema, etwa meinen Vater. Danach träume ich dann längere Zeit von meiner Mutter. Und natürlich träume ich oft von Jesus – Jesus als Junge, als aktiver Evangelist, als »König der Juden«, der verspottet, gegeißelt und ans Kreuz genagelt wird.
In der letzten Nacht habe ich von einem Mann geträumt, der tot in einem Zimmer lag, meinem Kinderzimmer, und ich fragte meine Mutter, was ich tun solle. Dann bemerkte ich, dass auch Jesus in dem Zimmer war, ganz in Weiß gekleidet, wie bei meiner Hochzeit mit Judith. Er bot an, »ein Wunder zu vollbringen«. Wie selbstverständlich, ohne Wichtigtuerei oder die Anmaßung »Ich bin der Sohn Gottes«, sondern einfach nur, um zu helfen – wie ein Handwerker von nebenan, der anbot, ein Loch in der Zisterne oder einen zerbrochenen Fensterladen zu reparieren. Meine Mutter dankte ihm, und er machte sich ans Werk. Tatsächlich ächzte und fluchte er wie ein Handwerker und verdrehte die Augen. Schließlich begann der Tote wieder zu atmen. Sein Gesicht zuckte, seine Augenlider flatterten und hoben sich, und er stöhnte, als sei es eine große Qual, aus dem Reich der Toten zurückgeholt zu werden, und als zöge er es vor, in Ruhe gelassen zu werden. Ich blickte über sein Bett hinweg und sah mich in einem Spiegel. Dann erkannte ich, dass Jesus der Mann war, der da im Bett lag.
Nach dem Tod von Johannes, als wir langsam nach Jerusalem zogen, wurde viel von der Auferstehung der Toten gesprochen. Früher hatte dieses Thema metaphorischen Charakter gehabt – Jesus machte die Blinden sehen, die Tauben hören, die Lahmen gehen und die Toten leben. Diese Taten wurden zwar mit oder an den Leidenden vollzogen – nicht aber für sie. Sie waren blind oder taub gegen Jesus gewesen, unfähig, seinen Weg mitzugehen, tot gegenüber seiner Botschaft. Das alles bekam nun eine ganz andere Bedeutung.
In zunehmendem Maße beobachtete ich, wie Jesu Taten in ein anderes Licht gerückt wurden – und für manche vielleicht immer schon etwas anderes bedeutet hatten. Aus Andeutungen wurden Behauptungen, aus Behauptungen Forderungen. Eine Forderung bestand darin, alles oder wenigstens manches wörtlich zu nehmen, etwa wenn Jesus vor der versammelten Menge sagte: »Habe ich nicht bewirkt, dass die Blinden die Wahrheit schauen, dass die Tauben das Wort Gottes hören?« Diese – meines Erachtens rhetorische – Frage wurde mit enthusiastischen »Ja«-Rufen und »Halleluja« beantwortet. Das Gleiche passierte, wenn er fragte: »Habe ich nicht bewirkt, dass die Toten wieder unter euch wandeln?« Ich fragte mich, wie wörtlich die Menschen diese Frage nahmen. Was wollte Jesu ihnen damit sagen? Und wie stand er selbst, ganz persönlich, dazu?
Als er eines Tages auf einem Marktplatz vor die Menge trat, rief ein Blinder von ganz hinten: »Jesus, Sohn Davids, hilf mir!«
Jesus ignorierte ihn, und die Zuhörer versuchten, den Mann zum Schweigen zu bringen, aber er rief wieder: »Jesus, Sohn Davids, hilf mir!«
Da bat Jesus Matthäus, den Mann zu ihm zu bringen. Ich stand ganz in der Nähe und konnte alles hören.
»Was willst du von mir?«, fragte Jesus den Mann.
»Ich will dich sehen«, erwiderte der Mann ganz aufgeregt, streckte tastend die Hände aus und berührte Jesu Gewand.
»Du weißt, wer ich bin«, sagte Jesus und strich dem Mann über die Wangen und die leeren Augenhöhlen. »Du hast meine Stimme gehört und mir Glauben geschenkt.
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