Mein Name war Judas
Gleiche bevorstehen?
Mittlerweile schien er es geradezu herauszufordern, wenn nicht gar herbeizusehnen. Er begann, seinen eigenen Tod vorauszusagen, fügte aber sofort hinzu, er werde nicht lange tot sein. Denn gleich nach seinem Tode werde ihn jener feurige Wagen abholen, und dann würden die Toten eingeteilt in die, die zum Himmel führen, und die, die zu ewiger Höllenqual verdammt seien. Diese Visionen beunruhigten die Jünger sehr und lösten die heftigsten Kontroversen aus. Manchmal war ihnen der Gedanke an seinen Tod so unerträglich, dass sie verstummten. Dann wieder begannen sie darüber zu streiten, wer für die Ewigkeit wohl welchen Platz zugeteilt bekommen, wer sich in welchem Teil des Himmels wiederfinden und wer den Platz neben Jesu Thron einnehmen werde.
Am letzten Tag unseres Aufenthalts an der Flussmündung versammelte Jesus uns alle um sich, um uns Instruktionen zu erteilen. Ich saß am Rande der Gruppe in der Morgensonne und beobachtete die Fische, eine Forellenart, in dem klaren Wasser. Sie hielten die Köpfe gegen die Strömung und machten gerade genug Schwimmbewegungen, um an ein und demselben Fleck zu verharren. Wenn die Strömung zu stark wurde, ließen sie sich gen See treiben, um dann wieder kehrtzumachen, den gleichen Fleck wie vorher anzusteuern und dort wieder wie angewurzelt zu verharren. Ab und an schüttelte eine leichte Brise kleine grüne Käfer von den umstehenden Bäumen auf die Wasseroberfläche. Dann taumelten sie eine Weile auf den gekräuselten Wellen umher, ehe sie sich mit silbernem Flügelschlag wieder in die Lüfte erhoben. Das alles war so schön, so natürlich und mühelos, als bedürfe es gar keines Gottessohns oder gar – aber das hätte ich niemals laut gesagt – eines Gottes. Die Natur sorgte für sich selbst und brauchte uns nicht.
Doch auch was Jesus uns an diesem Morgen sagte, war nicht ohne Schönheit. Er sprach von Kindern und dass sie des Schutzes bedürften. Der Gedanke, dass jemand einem Kind etwas zuleide tun könnte, bekümmerte ihn zutiefst und machte ihn wütend.
Dann wechselte er das Thema und bat uns, die Augen zu schließen und uns vorzustellen, womit wir ihn am ehesten vergleichen würden. Das hatte er schon öfter mit uns gemacht, und er wusste, wie sehr es mir missfiel. Er sagte, es sei eine Übung, eine Vorbereitung auf die Zeit, wenn wir ohne ihn durchs Land ziehen, predigen und den Menschen von ihm erzählen würden, auf dass sie glaubten, was wir glaubten. Das war einerseits sinnvoll, andererseits aber so sehr auf ihn bezogen, dass es ihm, wie ich fand, hätte peinlich sein müssen, was nicht der Fall war. Dafür schämte ich mich. Und zwar für ihn.
Die anderen Jünger schienen sich solche Gedanken nicht zu machen. Manche äußerten sich schüchtern, andere nicht besonders wortgewandt, aber keiner blieb eine Antwort schuldig. Für Petrus war Jesus ein Bote, ein engelgleicher Bote, für Matthäus ein weiser Philosoph. Für Andreas glich Jesus einem Fischer, für Johannes einem Feigenbaum.
So ging es immer weiter. Ich wollte damit nichts zu tun haben und wandte den Blick ab. Bartolomäus hatte sich bei unserem letzten Besuch in der Stadt in Misskredit gebracht, weil er seine Abende in Tavernen verbracht und sich dort mit hübschen jungen Männern vergnügt hatte. Jetzt hob er die Hand und wedelte damit herum, um vom Meister das Wort erteilt zu bekommen, doch der ignorierte ihn.
Ich blickte weiter in den Fluss und lauschte auf das Gemurmel der Wellen. Als plötzlich nichts anderes mehr zu hören war, wandte ich mich Jesus zu. Er stand da, sah mich an und hatte nur darauf gewartet, meine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Judas.« Er sprach meinen Namen auf eine Art aus, als bedeute er etwas Unheilvolles. Dann fragte er tadelnd, ob ich meinen Blick freundlicherweise für einen Moment von der Natur losreißen könne und etwas beizutragen habe.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte den Eindruck zu erwecken, als übersteige das Thema meinen Horizont.
»Ein Vergleich«, versuchte Jesus mir auf die Sprünge zu helfen. »Es muss kein schmeichelhafter sein.«
Er hätte mich zufrieden lassen sollen. Noch während ich antwortete, wusste ich, dass ich besser geschwiegen hätte. »Gerade im Moment«, sagte ich, »kommst du mir vor wie ein Blinder, der um einen Spiegel bittet.«
Er starrte mich erbost an, dann wandte er sich den anderen mit einem bemühten Lächeln zu. »Judas ist mein Spiegel«, sagte er. »Er ist das Stück Nazareth, das ich immer
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