Mein Name war Judas
Dieser Glaube wird dich heilen. Füge dich deinem Schicksal.«
Jesu Berührung und seine tröstenden Worte beruhigten den Mann, doch wenn später von dieser Episode die Rede war, hörte ich mehr als einmal, Jesus habe ihm das Augenlicht wiedergegeben.
In diesen Wochen wurde mir immer klarer, wie weit ich mich von den anderen Jüngern und Jesus selbst entfernt hatte – oder besser gesagt: wie weit sie sich von mir entfernt hatten. Ich war derselbe geblieben. Sie hatten sich verändert. Zwischen uns hatte es immer schon eine Kluft gegeben, doch nun war sie zum Schisma geworden. Je mehr Macht Jesus für sich beanspruchte, desto skeptischer wurde ich. Ich betrachtete ihn immer noch als meinen Freund, aber es entstand ein Spannungsverhältnis, das es vorher nicht gegeben hatte. Es hatte den Anschein, als schwände seine Zuneigung zu mir, und das war nur folgerichtig. Er betrachtete sich mittlerweile als Gesandter Gottes. Er hatte keine Zeit, sich mit einem Ungläubigen abzugeben, der nur deswegen Teil des ganzen Unternehmens geworden war, weil er mit Jesus die gleiche Schulbank gedrückt hatte.
Es gab keine lautstarken Auseinandersetzungen zwischen uns, keine offene Feindschaft, aber das war auch nicht nötig. Mein Schweigen signalisierte ihm auch so, wo ich stand. Genau wie den anderen Jüngern, die mich andauernd fragten, warum ich dieses oder jenes nicht bestätigte und die übermenschlichen Kräfte des Meisters und seine Größe nicht anerkannte. (Erst seit kurzem wurde er allgemein als »der Meister« bezeichnet, was mir zuwider war, von ihm aber nicht infrage gestellt wurde.) Ich wurde gefragt, was mich störte, warum ich so unkooperativ, so widerborstig und still geworden sei.
Nicht dass innerhalb der Gemeinschaft sonst alles eitel Sonnenschein gewesen wäre. Wir waren wie Höflinge, die stets um die Gunst des Prinzen buhlten, was manchmal zu erbitterten und hässlichen Rivalitäten führte. Um diese Zeit übernahm ich die Rolle Matthäus’, des Steuereintreibers. Ursprünglich war er der Außenseiter gewesen, den keiner mochte und über den man ungestraft abfällige Bemerkungen machen durfte. Manchmal konnte ich die anderen sogar verstehen und fand mich selbst unausstehlich. Unser Glaube, der nie besonders gefestigt gewesen war, bedurfte als stabilisierendes Element unserer Einigkeit. Wenn wir die Richter darüber waren, ob Jesus göttliche Kräfte besaß, musste unser Urteil einmütig sein.
Deswegen galt ich ab einem gewissen Zeitpunkt als »Verräter« – und nicht, wie Ptolemäus und die anderen durchreisenden Evangelisten ihren Zuhörern hier in Sidon weismachen wollten, weil ich mich mit dreißig Silberlingen »für Informationen über seinen Aufenthaltsort« hätte bestechen lassen. Mein »Verrat« bestand darin, dass ich mich weigerte, mich zu Dingen zu bekennen, die ich nicht glauben konnte. Mittlerweile sehe ich darin eine Parallele zu Jesu Botschaft: Glaube, oder fahre zur Hölle! Ich aber konnte nicht glauben, und ich versuchte gar nicht erst, so zu tun. Als das offenkundig wurde, begannen die anderen auf eine Art über mich zu reden, die einem Zur-Hölle-Schicken gleichkam.
Anders als über mich berichtet wird, fand ich keinen Gefallen daran, ein Außenseiter zu sein. Ich fühlte mich schuldig. Immer wieder sagte ich mir in jenen Wochen, dass es mein alter Schulfreund war, den ich begleitete, nicht der Sohn Gottes, aber ich fühlte mich zunehmend unwohl, war oft allein, und manchmal bekam ich es mit der Angst zu tun.
Jesu Predigten wurden derweil immer gewaltiger. Manchmal trug er sie noch mit der gleichen Leichtigkeit, dem gleichen Charme wie früher vor, aber immer häufiger bekamen sie etwas Kühnes, Schroffes, Herrisches und Maßloses. Auf gewisse Weise bewunderte ich ihn dafür, teilte den Stolz der anderen Jünger und die Inbrunst der Zuhörer. Zugleich nagten aber Zweifel an mir. Je größer die Menge, die ihn hören wollte, desto triumphaler trat er ihr entgegen. Unsere Vorbereitungen für seine Auftritte bekamen etwas Inszenatorisches. Aus dem Lamm wurde ein Löwe. Und seine einst so bedachten, ausweichenden Antworten, etwa auf die Frage, was er vom Steuernzahlen halte, wurden unvorsichtig und direkt, manchmal geradezu leichtsinnig. Obwohl ich mich um das Wohlergehen der ganzen Gruppe sorgte, galt meine Hauptsorge ihm. Schließlich hatte man Johannes gewaltsam aus dem Kreis seiner Anhänger entfernt und erst geschunden, als man ihn isoliert hatte. Warum sollte Jesus nicht das
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