Mein Name war Judas
zu werden.
Also sprach ich darüber, wie Jesus die Armen, Kranken und Beladenen ermutigte und ihnen Hoffnung auf ein Ende ihres Leidens machte. Auch wenn ich all das selbst nicht recht glauben konnte, so glaubte ich doch, dass es den Benachteiligten besser gehen sollte und dass die Macht der Unterdrücker eines Tages, sei er auch noch so fern, gebrochen würde.
Und dann war da die Frage von Frevel und Strafe, Rache und Vergebung, Krieg und Frieden. »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, das sei die alte Lehre, sagte ich meinen Zuhörern. Die neue, für die Jesus stehe, besage, man solle die andere Wange hinhalten, wenn man geschlagen werde. Ich fragte die Leute, ob ihnen das schwerfiele, und gab zu, dass es nicht einfach sei. Aber es sei etwas, nach dem zu streben sich lohne, ein Ideal, mit dessen Hilfe Feindseligkeiten abgebaut, Frieden und Eintracht herbeigeführt werden könnten.
Ich sagte, man solle kein Urteil über andere fällen, sondern nur das eigene Gewissen rein halten. Im Übrigen sei es an Gott, zu urteilen. Wir sollten andere so behandeln, wie wir von ihnen behandelt werden wollten, mit Mitgefühl und Verständnis. Dem Bruder, der uns Unrecht angetan habe, solle vergeben werden, nicht sieben Mal, sondern siebenmal sieben Mal. Immer und überall sollten wir vergeben.
Wir sollten unsere Familien und Freunde lieben und darüber hinaus alle Menschen, ob nah oder fern, fremd oder vertraut, selbst unsere Feinde. Sie alle sollten wir als Brüder und Schwestern betrachten oder wenigstens als Cousins und Cousinen, als Teil einer einzigen großen Menschenfamilie. Auch das sei nicht einfach, aber erstrebenswert.
Jesu Botschaft, sagte ich, handle von Hoffnung und Vertrauen. Wir sollten nicht fragen, woher unsere nächste Mahlzeit komme, sondern darauf vertrauen, dass Gott dafür sorgen werde. »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.« Das hatte Jesus uns gelehrt, das sollten wir verkünden und glauben. Wenn ich es meinen Zuhörern zu erklären versuchte, konnte ich sehen, wie schwer sie sich taten, es zu verstehen, geschweige denn zu glauben. Einmal war ich zugegen, als Jesus über dasselbe Thema predigte, und die Gesichter seiner Zuhörer waren ergriffen. Wenn er diese Botschaft verkündete, konnten die Menschen sie ohne Weiteres annehmen. Aber ich konnte ja selbst nicht glauben, dass einem alles gegeben würde, worum man bat, dass man alles fände, wonach man suchte. Folglich konnte ich davon auch sonst niemanden überzeugen. Mein eigenes Unvermögen stand mir im Weg. Die »Wahrheit« lag in der Botschaft selber, nicht in nachgeschobenen Erklärungsversuchen. Wenn Erklärungen vonnöten waren – wo blieb dann der Glaube?
Wenn ich predigte, stellten sich bei mir keine Hochgefühle ein, und ich wusste, dass ich nicht besonders erfolgreich war. Teilweise lag es daran, dass ich kein geborener Redner war, teilweise aber auch daran –, erst vierzig Jahre später wird mir das klar, dass die Botschaft, die ich verkündete, seine war – nicht meine. Damals hatte ich meine eigene Lebensphilosophie noch nicht gefunden. Ich hielt mich an das, was mich in seinen Predigten anfänglich angezogen hatte und was ich guten Gewissens weitergeben konnte. Es war der einfache, unerschütterliche Glaube des Jesus von Nazareth, den ich meinen Zuhörern nahebrachte, den Hundephilosophen, der Glaube, der mir in den Gerstenfeldern und auf den Straßen von Galiläa ein guter Gefährte gewesen war – nicht die Fackel, die die Sünde ausmerzen und sich jetzt einen Weg nach sJerusalem brennen wollte, um Gottes Zorn über die Mörder seines Cousins zu bringen.
Viele waren in die Heilige Stadt unterwegs, um dort das Passahfest zu begehen, und so wuchs die Menge, in der wir uns bewegten. Manche schlossen sich uns an, nachdem sie Jesus predigen gehört hatten, andere hatten lediglich denselben Weg wie wir.
In Samaria kam ein Rabbi zu uns, um den Mann zu hören, der in aller Munde war, und ihn zum Essen einzuladen. Jesus predigte auf dem Marktplatz, und vier Fischerbrüder, Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes, waren bei ihm. Ich war als Schatzmeister unserer Gemeinschaft dabei, eine Funktion, die ich seit einiger Zeit innehatte. Der Rabbi stellte sich uns als Levi vor und sagte, er habe schon viel von dem »neuen Propheten« gehört. »Ich hoffe, du nimmst meine Einladung an«, sagte er. »Ich möchte dich und deine Lehre gern aus erster Hand kennenlernen, nicht durch Gerüchte
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