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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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Petrus auf den Berggipfel geführt hatte.
    »Als ich aufwachte«, sagte er, »war Jesus ein einziges weißes Licht. Wie eine brennende Fackel. Ich konnte kaum hinsehen, so hell war es. Er sprach mit Mose und noch jemandem …« Er zögerte.
    »Mit wem?«, rief jemand. »Du meinst doch nicht etwa …«
    Jakobus sah Johannes an. »Wer, sagte er noch mal, war der andere? Elia?«
    Johannes nickte ernst. »Elia!«
    Die Zuhörer schüttelten erstaunt die Köpfe. Einer fragte, worüber sie redeten.
    »Ich konnte sie nicht verstehen«, sagte Jakobus. »Aber beide sagten etwas zu Jesus, und als er ihnen antwortete, hörten sie zu.«
    Wieder schüttelten die Zuhörer die Köpfe, dieses Mal belustigt. »Was du nicht sagst! Sie hörten tatsächlich zu?«
    »Genau.«
    »Wahrscheinlich hat er ihnen was von euch schrägen Vögeln erzählt.«
    »Nein, sie unterhielten sich ganz ernst«, sagte Jakobus.
    Auch sonst war auf unserem Weg immerzu von Jesu angeblichen Wundern die Rede. Wann immer einer von uns bei einem öffentlichen Auftritt nicht weiterwusste, kramte er ein Wunder hervor. Jesus habe diesem und jenem den Teufel ausgetrieben, diesen oder jenen Besessenen geheilt, Blinde sehen gemacht, Taube hören, Lahme gehen, Leprakranke gerettet und Tote auferweckt. Mir gefiel das alles nicht. Ich fand es billig, fadenscheinig und verlogen, doch die anderen boten ihren Zuhörern, was diese hören wollten. Wenn Jesus selbst predigte, verlangten die Zuhörer, ein Wunder zu sehen, und waren enttäuscht, wenn er sich weigerte. In seiner Abwesenheit wurden wir anderen von den Zuhörern gedrängt, von seinen Wundern zu berichten.
    »Gebt uns ein Wunder!«, war ein Ruf, der uns überall begleitete.
    Als wir die Grenze zu Judäa passiert hatten und uns auf Samaria, unseren nächsten Treffpunkt, zubewegten, kam ich mit Philippus und Bartolomäus in ein Dorf, wo sich Menschen um uns scharten, die kaum etwas von uns wussten, außer dass unser Anführer ein Prophet sei, der Wunder vollbringe. Sie brachten uns einen Säugling, der im Sterben lag oder vielleicht sogar schon tot war. Wir sollten ihn heilen. Ich sagte, wir könnten nicht mehr tun, als für das Kind zu beten, und dass man es lieber wieder nach Hause bringen sollte, statt es der Mittagssonne auszusetzen. Die Mutter bat und bettelte aber immer weiter, und schließlich meinte Philippus, wir sollten es wenigstens versuchen.
    Ich entfernte mich von der Menge. Die verzweifelte Mutter, das ausgetrocknete, halbtote Kind mit dem aufgeblähten Bauch, die hoffnungsvollen Gesichter der in Lumpen gekleideten Menschen, die Bereitschaft meiner Gefährten, sich an einem Wunder zu versuchen – das alles war einfach zu viel für mich.
    Als wir später kurz vor Samaria wieder zusammentrafen, fragte Philippus Jesus, warum er Wunder vollbringen könne und wir anderen nicht. Jesus erwiderte, unser Glaube sei nicht stark genug. Besäßen wir den wahren Glauben, könnten wir Berge versetzen.
    Was meine Predigten betrifft, so waren sie nicht so wortgewandt wie die von Jesus; auch konnte ich nicht meine innersten Gefühle hervorkehren und zu Hoffnungsankern für die Zuhörer machen. Ich hielt mich an die Botschaft, die er ursprünglich verkündet hatte und die ich glauben oder wenigstens als bedeutend, tröstlich und hilfreich ansehen konnte. Das funktionierte recht gut. Meine Zuhörer fingen nicht an zu gähnen oder zu lachen, und sie liefen mir nicht davon. »Er ist aufrichtig«, sagten sie. »Er meint es ernst.«
    Begeisternd waren meine Predigten aber nicht. Die Lehre von Vernunft, Mitgefühl und Nächstenliebe ist nichts, was die Menschen gleich zu Konvertiten macht. Vielmehr haben sie das Gefühl, diese Werte schon immer vertreten zu haben, und vermutlich stimmt das sogar. Nur dass gerade diese Werte im Alltag so schwer umzusetzen sind.
    Ich hatte kein Talent für Gleichnisse, wie Jesus sie sich andauernd einfallen ließ. Ich hielt auch nicht viel davon. Oft verschleierten sie die Botschaften, um die es eigentlich ging, was freilich gerade einen Teil ihres Reizes ausmachte. Undurchsichtigkeit hat etwas Geheimnisvolles. Sie erlaubt den Menschen, die Geschichten nach eigenem Gutdünken zu interpretieren und sich hinterher trefflich darüber zu streiten. Oft haben sogar wir Jünger Jesus gefragt, was ein bestimmtes Gleichnis zu bedeuten habe, und nicht selten hat er es dann mit einem anderen erklärt. Ich hingegen bevorzugte Klarheit. Das entspricht meinem Naturell, und ich legte Wert darauf, verstanden

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