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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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anvertraut hatte, wie derjenige seiner Meinung nach vertragen konnte? Diese Fragen stelle ich mir heute, ohne mir der Antworten gewiss zu sein. Vielleicht bündeln sich in meiner Erinnerung Dinge, die in Wahrheit einen längeren Zeitraum beanspruchten, als es mir heute scheint. Ich weiß, dass es im Zuge der allgemeinen Begeisterung auch bei mir Momente gab, in denen ich dem von ihm geforderten Glauben nahe war. Ich weiß aber auch, dass neben der Begeisterung und meiner an- und abschwellenden Glaubensfestigkeit meine Angst wuchs: Angst um mich, das gebe ich zu, vor allem aber Angst um Jesus. Die Macht der Römer war allgegenwärtig, und sie wurde kaltblütig, effizient und brutal ausgeübt. Auch wenn an manchen Orten und zu mancher Zeit nichts von ihr zu spüren war, hatte ich sie doch nicht aus den Augen verloren.
    Jesus hatte uns ein Gebet gelehrt, das mit den Worten »Unser Vater im Himmel« begann. In seinen Predigten war aus unser Vater mein Vater geworden. »Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen. Es bietet genügend Platz für alle, die sich nach Frieden und Eintracht und nach den Freuden eines Lebens nach dem Tode sehnen. Doch es gibt nur einen Weg , der hineinführt, und der bin ich .«
    Das war zur Quintessenz seiner Botschaft geworden. »Ich bin die Wahrheit, der Weg und das Leben.« Mittlerweile vernahm ich diese Botschaft laut und deutlich, und sie erschreckte mich zutiefst. Hatte er den Verstand verloren, oder war ihm die Bewunderung der Massen zu Kopf gestiegen? Ihr Glaube war so, wie er es verlangte, auch von uns Jüngern: inbrünstig, fraglos, wider jede Vernunft.
    Mit seiner Selbstgewissheit wuchs auch sein Zorn. Er maßte sich an, all jene mit diesem Zorn zu überziehen, die seine Bestimmung als Messias anzweifelten oder rundheraus bestritten. Er zeigte seine Angriffslust ganz offen, wie ein Wachhund, den man von der Leine gelassen hatte. In seinen Predigten malte er aus, wie die Zweifler in der Hölle schmoren und zu spät anfangen würden zu jammern, zu wehklagen und den Herrn um Vergebung anzuflehen.
    Er befand sich in einem Zustand der Verklärung. Durch ihn, so versicherte er uns, werde die alte Ordnung zerstört, würden Sünder bestraft und den Rechtgläubigen das ewige Leben geschenkt. Ich habe meine Ängste schon angesprochen, aber da war noch etwas anderes. Wie ein Schatten spukte diese Angst in mir umher und nagte des Nachts an mir. Angenommen, Jesus hatte recht – würde mir mit all meinen Zweifeln und Fehlern auch nur das kleinste Fleckchen im Himmel zuteilwerden? Oder war ich derjenige von uns zwölfen, der bis ans Ende aller Zeiten in der Hölle schmoren und an der Erkenntnis seiner eigenen Torheit verzweifeln sollte?
    Am Morgen des zweiten Tages in Betanien hieß Jesus Philippus und Andreas, einen Esel zu holen. Es verbreitete sich die Kunde, noch heute werde Jesus in Jerusalem einziehen. Schnell sammelte sich eine enorme Menschenmenge – unsere eigenen Leute aus Galiläa, Einwohner von Betanien und Betfage und schließlich, als wir uns Jerusalem näherten, auch Leute aus der Stadt, die von Jesus gehört hatten und ihn sehen wollten. Eine zunehmende Spannung lag in der Luft. Wenn viele Juden zusammenkamen, war der Funke, der eine Revolte auslösen konnte, nie weit – eine Revolte gegen die Römer, die uns unterdrückten, aber auch gegen die jüdischen Machthaber aus Königshaus und Tempel, die sich den Römern unterordneten. Nichts davon wurde je offen ausgesprochen, aber das war auch nicht nötig. Wir alle wussten und spürten es, ich genau wie alle anderen. Hinzu kam, dass es in den Prophezeiungen heißt, der Befreier Israels werde nicht auf einem stolzen Ross, sondern bescheiden auf einem Esel in die Stadt geritten kommen. So wie Jesus es jetzt tat.
    Die Menschen jubelten ihm zu, winkten von ihren Balkonen herab, ebneten ihm den Weg mit Palmwedeln oder warfen kostbare Gewänder in den Staub, auf dass Jesus besser vorankomme. Der junge, noch nicht ausgewachsene Esel trottete darüber und fiel hin und wieder in einen stolzen Trab, als wisse er, dass er den Messias in die Heilige Stadt trage. Jungen liefen neben uns her, aufgeregt uns zuwinkend. Budenbesitzer boten uns unentgeltlich Früchte und Blumen an. Eine Frau rief, Jesus sei der König Israels, der gekommen sei, um seinen rechtmäßigen Thron zu besteigen. Eine andere, die ganz in der Nähe stand, antwortete daraufhin übermütig und gut gelaunt: »Gewiss doch, und ich bin die Königin von Saba.« Manche glaubten,

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