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Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Abend etwas zum Lesen mitnehmen, nicht wahr? Und dabei kamen Sie mit ihm ins Gespräch — über englische Literatur — und dann bewunderte er die Aussicht aus Ihrem Zimmer auf den Park.«
    Ich verstummte plötzlich, denn Fräulein Drost sah mich mit einem Blick an, der wie ein blank geschliffener Dolch aufblitzte.
    »Und dann fiel ich ihm um den Hals und gestand ihm, er sei der Mann, auf den ich mein Leben lang gewartet habe!« fuhr sie mit einer Stimme fort, die vor Grimm fast erstickt klang.
    »Das habe ich nicht behauptet!« sagte ich ruhig, »diese Fortsetzung stammt ganz allein aus Ihrer Feder. Aber ich will an Ihren Worten weder drehen noch deuteln.«
    Eine Weile lang blieben wir beide stumm und vermieden es peinlich, einander in die Augen zu blicken.
    »Mister Murchison war nicht in meinem Zimmer! « sagte Fräulein Drost schließlich so laut und akzentuiert, als wolle sie sich einem Taubstummen verständlich machen. »Von dem Blick in den Park und von den Folgerungen, die Sie daraus ableiten, Herr Doktor Martin, kann also keine Rede sein!«
    »Haha!« machte ich, »aber der Anfang — der Anfang, der stimmt wohl haargenau, wie?«
    Fräulein Drost antwortete mir nicht. Statt dessen hob sie die Klappe des Tisches empor, ging stumm und starr an mir vorbei und verließ den Laden, um zu ihrer Tante hinüberzugehen. Sie ließ mich zwei oder drei Minuten warten. Als sie wieder zurückkam, trug sie ein in Papier eingewickeltes Buch in der Hand.
    »Die Leihgebühr kostet sechzig Pfennige für acht Tage«, sagte sie eisig. »Jeder weitere Tag kostet zehn Pfennige mehr.«
    Ich griff in die Tasche und zählte sechs blanke Zehner auf den Zahlteller aus rotem Plastikmaterial: »Ich bin ein schneller Leser...«
    »Deshalb kann ich es Ihnen nicht billiger machen. Sechzig Pfennige sind die Grundgebühr, ob Sie das Buch acht Tage oder acht Stunden behalten. Adieu, Herr Doktor, und beehren Sie mein Geschäft bald wieder.«
    »Das werde ich tun!« sagte ich zähneknirschend, »darauf können Sie sich verlassen! Und vielleicht ergibt sich dabei eine Gelegenheit, über deutsche Literatur zu plaudern, und vielleicht ergibt sich sogar die Möglichkeit, diese Plauderstunde außerhalb des Geschäftes fortzusetzen.«
    Fräulein Drost würdigte mich keines Blickes, als sie zur Tür ging, um sie vor mir ganz unmißverständlich zu öffnen. Und ihre Stimme klang, als spräche sie vom eisigen Gipfel des Mount Everest zu mir herab: »Sie sind im Irrtum, Herr Doktor, wenn Sie annehmen, daß ich für jeden Kunden meines Geschäftes außerhalb der Ladenzeit zu sprechen sei. Und wenn ich für jeden zu sprechen wäre — für Sie nie!!«
    »Guten Abend...«, murmelte ich einigermaßen betäubt, als die Tür hinter mir mit einem lauten Knall ins Schloß fiel und von innen so energisch abgeriegelt wurde, als bliebe sie von nun an für immer verschlossen.
    Ich hatte das unangenehme Gefühl, genau das Gegenteil von dem erreicht zu haben, weshalb ich Fräulein Drost aufgesucht hatte. Das Kraut war ausgeschüttet. Weshalb hatte das Gespräch nur diesen bitteren und aggressiven Charakter angenommen? Weshalb, zum Teufel, war ich so spitz und ironisch geworden? Womöglich kam Fräulein Drost noch auf den Gedanken, ich sei aus Eifersucht auf Mister Murchison so rauhbeinig zu ihr gewesen... Ohne jeden Zweifel war Fräulein Drost ein schönes und anziehendes Geschöpf, ja, sie besaß alle Eigenschaften, um auf mich einen starken Eindruck zu machen und ihre nähere Bekanntschaft zu wünschen. Das war gar nicht zu bestreiten. Aber hier ging es doch gar nicht um mich und meine Beziehungen zu diesem Mädchen. Oder wenn es darum ging, dann doch nur insofern, daß ich als Mann die rein menschliche, um nicht zu sagen sittliche Verpflichtung hatte, den dunklen Anschlag eines gewissenlosen Abenteurers auf eine ahnungslose junge Frau zu verhindern. Jawohl, genauso war das! Eine sittliche Verpflichtung, die für mich genauso bestanden hätte, wenn Fräulein Drost weniger jung und weniger hübsch gewesen wäre.

9

    Onkel Ferdinands Standpunkt in dieser Angelegenheit, die ich zu meiner Sache zu machen entschlossen war, kannte ich bereits, und ich wußte schon jetzt, daß er auch heute nur wiederholen würde, was er mir schon einmal geraten hatte, nämlich, die Finger von der Geschichte zu lassen. Dennoch glaubte ich annehmen zu dürfen, daß die Eile, mit der Murchison seine verborgenen Ziele zu erreichen versuchte, auch ihn interessieren würde.
    Ich läutete bei

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