Mein Onkel Ferdinand
verzagt.
»Ich bin die Ruhe in Person!« sagte ich tröstend.
Es war ein Samstag, und dieser Umstand brachte es mit sich, daß der Betrieb im Laden lebhafter war als an gewöhnlichen Wochentagen. Zuweilen standen drei und vier Kunden vor den Regalen, und die Melodie der Glasstäbe an der Tür ertönte fast ohne Unterbrechung. Jedesmal hob ich lauschend die Ohren, in der Erwartung, Murchisons wohlbekannte, ein wenig schleppende und schon durch ihren Akzent unverkennbare Stimme zu hören.
Gertrud hatte mir ein paar Bücher hingelegt, und ich versuchte, mir mit ihnen die Zeit zu vertreiben, aber ich konnte mich weder auf Mostars elegante Frechheiten noch auf Uris' >Exodus< konzentrieren. Von Zeit zu Zeit machte Gertrud sich für ein paar Sekunden frei und schlüpfte zu mir herein, um mir die Geduldsprobe ein wenig leichter zu machen.
Es wurde elf, und Murchison kam nicht. Um zwölf warteten wir noch immer vergeblich auf ihn. Auch Tante Otti wurde schon ganz nervös und kam alle zehn Minuten in Gertruds Laden hinüber. Um eins war die Zwölferpackung Zigaretten, die ich morgens aus dem Automaten gezogen hatte, leer — und dann trat ein Ereignis ein, das abergläubische Gemüter veranlaßt hätte, von nun an felsenfest an die Vorbedeutung von Träumen zu glauben. Ein Page des Hotels Savoy erschien und brachte Gertrud ein Päckchen mit Büchern und einen Brief, und ich hörte Gertruds Frage und die Antwort der hellen Jungenstimme: Mister Murchison habe das Hotel heute früh verlassen und den Sechs-Uhr-Zug nach Frankfurt genommen.
Der Brief aber, mit dem Gertrud zu mir eilte und den sie in meiner Gegenwart aufschlitzte, enthielt ein paar kurze Sätze, die das Rätsel um Murchisons Auftauchen und sein plötzliches und unerwartetes Verschwinden nur noch dunkler machten. Er lautete:
Sehr geehrtes Fräulein Drost!
Umstände, die ich Ihnen nicht erklären kann, veranlassen mich zu dieser überstürzten Abreise. Vielleicht ahnen Sie bald die abgründigen Pläne, die mich nach Deutschland führten und mich Ihre Bekanntschaft suchen ließen.
Wenn ich der Versuchung, diese Pläne weiterzuverfolgen, jetzt entfliehe — und diese Abreise ist eine Flucht —, dann nur darum, weil ein Umstand eintrat, den ich nicht in meine Berechnungen gezogen hatte. Ich wußte plötzlich, daß ich Sie liebte. Daran ist mein Vorhaben gescheitert. Ihre Verzeihung wage ich nicht zu erhoffen. Ihnen wünsche ich, daß Sie in der Zukunft so glücklich werden, wie Sie es verdienen.
Unter dem Brief standen die Anfangsbuchstaben seines Namens R. W. M. Wir lasen dieses merkwürdige Schriftstück drei- oder viermal nacheinander.
»Verstehst du das?« fragte Gertrud schließlich und sah mich kopfschüttelnd an.
»Es ist mir genauso rätselhaft wie dir...«, sagte ich verwirrt. »Was soll das heißen? »Vielleicht ahnen Sie bald die abgründigen Pläne, die mich nach Deutschland führten...< Wenn man diesen ganzen Brief auf seinen Grundgehalt untersucht, dann kommt ganz nüchtern heraus: Mein Fräulein, ich war im Begriff, soeben eine Gaunerei zu begehen, und an der Vollendung des Gaunerstücks hinderte mich nur ein Rechenfehler, nämlich, daß ich mich in Sie verliebte. So ist es doch, nicht wahr? Das Resultat ist meiner Meinung nach so klar wie eine chemische Analyse. Oder bist du anderer Ansicht?«
Gertrud hob die Schultern und ließ sie sinken.
»Die Geschichte wird immer verworrener«, überlegte ich laut. »Murchisons Beweggründe, sich dir zu nähern, können doch nur auf einem Geheimnis beruhen, das er kennt. Und dieses Geheimnis muß etwas mit dir zu tun haben...«
»Ich habe keine Geheimnisse!« 6agte Gertrud ein wenig gereizt, »ich glaube, du geheimnißt etwas um mich herum und in mich hinein, was gar nicht existiert!«
»Hast du den Film >Gaslicht< mit der Bergman und Charles Boyer gesehen?« fragte ich. Es war ein plötzlicher Einfall, der mich blendete.
Gertrud nickte langsam, sie war von meiner Frage zuerst verblüfft, aber dann begriff sie, wohin ich damit zielte.
»Ja, natürlich besinne ich mich auf die Geschichte. Da heiratete ein Mann ein junges Mädchen deshalb, weil ihre Mitgift in einem Hause bestand, in dem ein Schatz verborgen war. Ich fand die Fabel — offen gesagt — ein wenig dumm, und den Weg, den der Mann ging, reichlich umständlich...« Sie lachte plötzlich auf: »Du bist wirklich ein wenig verrückt, Hermann, aber ich kann dich beruhigen: In diesem Hause, das Tante Otti gehört, befindet sich kein verborgener
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