Mein Onkel Ferdinand
Schatz, ganz gewiß nicht!«
»Ich glaube selber, daß ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe«, gestand ich ein, »aber dieser Kerl hat mich mit seinem verrückten Brief und den darin enthaltenen Andeutungen wirklich ganz durcheinander gebracht.«
Im Laden hustete ein Kunde, um sich bemerkbar zu machen, und Gertrud verließ mich, um ihn zu bedienen: »Du kannst dich für alle Fälle ja einmal bei Tante Otti erkundigen«, sagte sie von der Ladentür aus, »das Haus ist immerhin fast zweihundert Jahre alt, und vielleicht weiß sie von verborgenen Schätzen mehr als ich.«
Ich griff in den strohgeflochtenen Obstkorb und warf ihr eine Kirsche nach. Trotzdem ging ich zu Tante Otti hinüber. Nicht, um mich zum zweitenmal zu blamieren, sondern um ihr die neuesten Neuigkeiten zu melden. Murchisons Brief und seine Flucht überraschten Tante Otti nicht weniger als uns. In ihren Vermutungen über die Gründe, die Murchison zu seiner plötzlichen Abreise bewogen haben mochten, war sie, was mich einigermaßen tröstete, nicht klüger als ich. So blieb denn unsere letzte Hoffnung, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, der Brief, den ich heute früh nach London aufgegeben hatte.
Um zwei Uhr schloß Gertrud ihren Laden zu. Ich mußte mich noch einmal zu Tante Otti verfügen, weil Gertrud sich für ihren Antrittsbesuch bei meinen Eltern schön machen wollte, und das gelang ihr innerhalb einer halben Stunde so sehr, daß ich neben ihr durch die Straßen ging, als wäre ihre Schönheit mein Verdienst. Am liebsten hätte ich jeden Menschen, der uns begegnete, angehalten, um ihm zu sagen, daß dieses entzückende Mädchen meine Braut sei und so bald wie möglich meine Frau sein werde. Nur der Gedanke an Murchison trübte die Stunde ein wenig, denn er ließ mich einfach nicht los. Aber ich vermied es, darüber ein Wort zu verlieren, ich spürte, daß die Erinnerung an diese ziemlich unheimliche und unerklärliche Episode Gertrud quälte und beunruhigte.
Meine Mutter hatte zur Feier des Tages das geheiligte weißgoldene Altberliner Service aufdecken lassen, das sie vierundzwanzigteilig in die Ehe mitgebracht hatte und von dem noch nicht ein einziges Stück verlorengegangen war, weil sie es selber abwusch und trockenrieb. Zum Kaffee, an dem die Bohnen nicht wie sonst gespart waren, gab es gedeckten Apfelkuchen, der ganz zart nach Vanille duftete, und eine riesige Schüssel mit Schlagsahne.
Meine gute Mutter, die bei solchen Anlässen immer ein wenig zur Rührung neigte und sich zur Vorsorge ein Taschentuch aus Vaters Fach ausgeliehen hatte, küßte Gertrud auf den Mund und auf die Stirn und schenkte ihr bereits nach der ersten Viertelstunde ihr bestes Schmuckstück, eine mit kleinen Brillanten und Rubinen besetzte Löwenkralle. Und mein Vater stieß mich heimlich in die Rippen, er schnalzte — was sonst durchaus nicht seine Art war — genießerisch mit der Zunge und sagte bei Gertruds Anblick zweimal hintereinander »Donnerwetter«. Und er unterhielt sich mit ihr so aufgekratzt und amüsant, daß ich nahe daran war, auf meinen alten Herrn eifersüchtig zu werden.
Sogar Minna, sonst kritisch und kühl bis in ihr vertrocknetes Altjungfernherz hinein, wischte sich mit dem Zipfel der weißen Servierschürze die feuchten Augen und schluchzte, sie hätte es gleich geahnt, als sie dem Fräulein neulich die Tür öffnete, daß das eine Verlobung geben würde. Und sie gratulierte mir zu meiner schönen Braut und meiner Braut zu mir, denn sie kenne mich ja von Kindesbeinen an und könne es mit ruhigem Gewissen behaupten: den schlechtesten Griff habe das Fräulein mit mir nicht gemacht!
Es war eine richtige Familienfeier, mit der richtigen Mischung von Fröhlichkeit und Rührung, und wir saßen bereits bei einem Kirsch, um dem allzu reichlich genossenen Schlagrahm einen Dämpfer aufzusetzen, als im Korridor die Türglocke läutete. Minna ging, um zu öffnen, und Vater rief ihr nach: »Raus, wer es auch sein mag!«
Wir lauschten mit halbem Ohr und hörten plötzlich einen Laut, als würden Hühner aufgescheucht, und kurz darauf Onkel Ferdinands sonore Stimme: »Aus dem Wege, alter Drachen!« und Minnas beschwörendes Geflüster, und wieder Onkel Ferdinand: »Eine Verlobung? Zur Seite, du gräßlicher Besen! Da ist Onkel Ferdinand zur richtigen Zeit der richtige Mann am richtigen Platz!«
»Georg! Bitte! Geh du doch rasch hinaus!« stammelte meine Mutter, die blaß wurde und zu zittern begann, wenn sie Onkel Ferdinands Stimme nur von
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