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Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Was mochte hinter seiner steinernen Stirn Vorgehen?
    Ich klebte in meinem Sessel und sah im Augenwinkel, daß Gertrud wie erstarrt neben mir saß. Und ich bemerkte, daß Graham sich erhob. Er stand schmal und groß vor uns und stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Unter der blassen, bräunlich gepunkteten Haut knoteten sich blaue Adernstränge.
    »Es war keine angenehme Aufgabe für mich, Ihnen das alles sagen zu müssen. Gewiß, Ronald Murchison war nur ein Angestellter unserer Kanzlei, aber wir haben unsere Aufsichtspflicht gröblich verletzt. Murchisons Tod ist keine Rehabilitation für unseren Namen. Ich bitte Sie um Vergebung, daß so etwas geschehen konnte.«
    Er kam steifbeinig um den Tisch herum und näherte sich Gertrud: »Erlauben Sie mir dennoch, Fräulein Drost, Ihnen zu einer Erbschaft Glück zu wünschen, die Sie für Ihr Leben wohlhabend und unabhängig macht — wenn es auch meiner Erfahrung nach längere Zeit dauern wird, bis Sie in den Genuß Ihres Vermögens gelangen...«
    Er streckte Gertrud die Hand entgegen. Sah sie ihn nicht? Es wurde mir peinlich, die ausgestreckte Hand des alten Herrn zu sehen, die nicht ergriffen wurde. Gertrud rührte sich nicht. Sie saß neben mir, die Hände ruhten leblos in ihrem Schoß, und ihr Kinn berührte fast die Brust.
    »Gertrud!« flüsterte ich ihr zu und berührte ihre Schulter. »Mister Graham möchte dir gratulieren...«
    Als wäre es eine Folge meiner leichten Berührung, sank sie plötzlich nach vom und schlug, ehe ich es verhindern konnte, mit der Stirn hart auf die Tischkante. Ich hob ihr Gesicht empor...
    »Ein Glas Wasser, Mister Graham!« rief ich ihm zu, »Fräulein Drost ist ohnmächtig geworden...«
    Er eilte bereits in sein Schlafzimmer, bevor ich den Satz ausgesprochen hatte. Ich versuchte, Gertrud aufzurichten. Ihre Wangen waren weiß wie Kalk. Ich hob sie aus dem Sessel und trug sie quer durch das Zimmer auf das Sofa vor dem Kamin. Sie befand sich in einer tiefen Ohnmacht, denn sie kam nicht zu sich, als Graham ihr ein feuchtes Handtuch auf Stirn und Schläfen preßte. Eist, als ich das Glas mit Wasser an ihre Lippen führte und ein paar vorbeigeschüttete Tropfen in ihren Halsausschnitt rannen, begannen ihre Lippen zu erzittern, und endlich schlug sie wieder die Augen auf und griff nach meinen Händen, um sich aufzurichten.
    »Bleiben Sie liegen, Fräulein Drost«, bat der alte Herr besorgt, »und ruhen Sie sich eine Weile aus...«
    »Und trink einen Schluck, Gertrud — das Wasser ist frisch und wird dir guttun...«
    »Und nehmen Sie ein paar von meinen Herztropfen, ich hole sie sofort... Sie sind hervorragend und werden gewiß auch Ihnen über den Schwächeanfall hinweghelfen...«
    Er eilte in sein Schlafzimmer zurück. Gertrud schloß die Augen und tastete nach meiner Hand.
    »Halt mich fest«, stammelte sie mit zuckenden Lippen, und aus ihren Augen strömten Tränen über ihre Schläfen und versickerten im Haar, »sprich zu mir, Hermann, sag doch irgend etwas...«
    Was sollte ich sagen? Murchison tot. Vergiftet in irgendeinem Pariser Hotel... Ich sah sein gutgeschnittenes Gesicht deutlich vor mir und hörte den Klang seiner schleppenden, ein wenig hochmütigen Stimme. Und Gertrud Erbin eines Riesenvermögens in Aktien, Hausbesitz und Konten. Und ich ein kleiner, besch... eidener Chemiker mit nicht ganz neunhundert Mark im Monat. Lieber Himmel! Seit zehn Minuten schwammen meine Gedanken wie gefangene Fische in einem winzigen Bassin im Kreise, immer im gleichen Kreise...
    »Ja, Gertrud, ich bin bei dir... Lieg ganz ruhig und laß dir die Stirn kühlen... Ich weiß, es war ein bißchen viel auf einmal, was auf dich zukam... ich verstehe dich schon... ein bißchen viel... auch für mich... Ich spüre es selber in den Beinen... eine niederträchtige Schwäche... aber es wird vorübergehen...«
    Ich schwatzte mir den Druck von der Brust und streichelte ihren Arm und ihre Schulter, bis der fliegende Puls sich beruhigt und der Atem ihre Brust wieder gleichmäßig hob und senkte. Ich flößte ihr auch Grahams hervorragende Herztropfen ein, ein braunes, bitter riechendes Zeug, das aber gut zu wirken schien, denn Gertrud versuchte ein Lächeln: »Danke, Mister Graham, und entschuldigen Sie, daß ich Ihnen solche Umstände mache. Aber...« Sie sprach nicht aus, was sie so erschüttert hatte.
    »Bleiben Sie liegen, Kind«, sagte er väterlich, »ich lasse Ihnen inzwischen einen Wagen bestellen. Und legen Sie sich daheim zu Bett und

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