Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
Vom Netzwerk:
Verbindungen zu Leuten aufnahm, die in Wolle spekulierten. Er hatte Glück und kam zu einem Vermögen, das er durch die Konjunktur im Zweiten Weltkrieg erheblich vermehren konnte.«
    Er machte eine Pause, um einige Papiere zu entfalten, die vor ihm lagen. Mich beschlich eine unheilvolle Ahnung, und ich suchte in Gertruds Gesicht nach ihren Gedanken, aber 6ie schien die Zusammenhänge noch nicht zu begreifen.
    »Mister John D. Drust starb, wie uns unser Verbindungsmann in diesem Schreiben mitteilt, im Dezember des Jahres 1961. Er hinterließ, da er unverheiratet geblieben war, keine Leibeserben. Es gelang unserem Kollegen in Melbourne, festzustellen, daß Ihr Vater, Fräulein Drost, inzwischen ebenfalls verstorben war, und daß Sie selber hier bei einer Schwester Ihrer Mutter wohnten. Sie sind also Mister John Drusts einzige Erbin, die Erbin eines Vermögens, das sich aus Aktien, einigem Grundbesitz und einem Bankkonto zusammensetzt und einen Wert von etwa sechzigtausend Pfund Sterling besitzt.«
    Er ließ das Blatt sinken und blickte zu Gertrud hinüber, nachdem er die Brille abgenommen hatte. Mir wirbelte plötzlich der Kopf. Großer Gott, sechzigtausend Pfund Sterling! Das waren sechsmal hunderttausend Mark! Mehr noch! Das waren über siebenhunderttausend Mark! Ich muß die Summe wohl laut ausgesprochen haben, denn Gertrud wandte mir das Gesicht zu und starrte mich an. Und ihr Gesicht war wie eine Maske, leblos und leer...
    »Verzeihen Sie, Fräulein Drost«, hörte ich Graham sagen, »haben Sie mir folgen können? Ich meine, haben Sie mich verstanden?«
    Gertrud nickte stumm. Es sah aus, als bereite ihr die kleine Kopfbewegung unerträgliche Schmerzen in den Halsmuskeln. »Ja, gewiß, Mister Graham...«, murmelte sie fast unhörbar, »ich habe Sie verstanden. Ich bin die einzige Erbin... So sagten Sie doch...«
    Herrgott! dachte ich, sie plappert nur nach, was sie gehört hat. Aber verstanden hat sie kein Wort! Keine Silbe! Sie hat keine Ahnung, was diese Summe bedeutet!
    »Aber sagen Sie mir doch, Mister Graham«, stammelte sie, »was hat das alles mit Mister Murchison zu tun? Antworten Sie mir! Sagen Sie es mir doch endlich!«
    »Verstehen Sie es wirklich nicht?« 6agte der alte Herr müde und ließ die Schultern fallen, als gestände er eine eigene schwere Verfehlung ein. »Murchison empfing diesen Brief aus Melbourne. Sechzigtausend Pfund Sterling! Eine Summe, mit der er sich nicht nur von allen seinen Schulden und Sorgen befreien konnte, sondern die ihm auch die besten Zukunfts aus sichten bot. Vielleicht überlegte er sogar, daß Sie als deutsche Staatsangehörige einige Schwierigkeiten haben würden, sofort in den Besitz Ihrer Erbschaft zu gelangen. Er nahm diesen Brief an sich und beschloß im gleichen Augenblick, nach Deutschland zu reisen und sich Ihnen zu nähern. Er war ein Mann, der bei Frauen ziemlich viel Erfolg hatte. Weshalb sollte es ihm nicht gelingen, Sie zu erobern, falls Sie noch frei waren? Er hatte die Absicht, Sie so rasch wie möglich zu heiraten, Ihre Übersiedlung nach England hinauszuzögern — und sich als Ihr Ehemann in den Besitz Ihres Erbes zu setzen. Und dann widerfuhr ihm etwas, was er nicht in seine verbrecherischen Pläne einkalkuliert hatte. Er lernte Sie kennen und — verliebte sich in Sie.«
    »Das ist alles...«, sagte er nach einer längeren Pause, die von dem Hämmern einer kleinen goldenen Empireuhr erfüllt war, die rastlos und laut auf dem Kaminsims tickte.
    »Verzeihen Sie, Mister Graham«, sagte ich schließlich, »woher wissen Sie alle diese Dinge? Hat Mister Murchison Ihnen ein Geständnis abgelegt?«
    »Ronald Murchison hinterließ uns einen ausführlichen Brief«, antwortete er und starrte dabei auf seine Fingerspitzen, »in seinem Brief befand sich das Schreiben aus Melbourne, das uns ja völlig unbekannt war, als wir Ihren Brief erhielten. Deshalb fanden weder mein Bruder noch ich eine Deutung für die von Ihnen geschilderten Vorgänge. Selbst als wir das Telegramm der Pariser Polizei erhielten, ahnten wir noch nicht, wie schwer die Schuld war, in die Ronald Murchison sich verstrickt hatte.«
    »Ein Telegramm der Pariser Sûreté...«, sagte ich ahnungsvoll.
    »Ja«, sagte Graham mit schmalen Lippen, »Ronald Murchison hat seinem Leben vor drei Tagen in einem Pariser Hotel durch Veronal freiwillig ein Ende gesetzt.«
    Murchison tot. Gertrud Erbin eines Riesenvermögens von fast einer Dreiviertelmillion. Und drüben der alte Mann, streng und unversöhnlich.

Weitere Kostenlose Bücher