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Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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versuchen Sie zu schlafen. Ich bin morgen noch hier.
    Ich bleibe hier, solange Sie es wünschen. Wir haben Zeit genug, alle Fragen, die sich für Sie ergeben, gründlich durchzusprechen.«
    »Und Murchison?« fragte Gertrud abgeschnürt.
    »Mein Bruder ist in Paris geblieben. Er wird inzwischen geordnet haben, was zu ordnen war. Ich erwarte heute noch einen Anruf von ihm.«
    Gertrud richtete sich halb auf, 6ie legte Graham die Hand auf den Arm: »Können Sie ihm nicht verzeihen?«
    »Nein!« antwortete er hart und heftig. »Was er uns damit antat und was er sich selbst antat, das will ich ihm vergeben. Aber was er Ihnen antun wollte, dafür gibt es keine Sühne und keine Verzeihung!«
    »Ich habe ihm verziehen«, sagte Gertrud leise, »aber es wird ihm jetzt wohl gleichgültig sein, ob wir ihm vergeben oder nicht.«
    Graham senkte den Kopf, es sah aus, als verneige er sich in Ehrerbietung.
    »Sie sind sehr gütig«, murmelte er und legte seine Brille sorgfältig in das schwarze Lederfutteral zurück.
    Das Läutwerk des Telefons rasselte, und Graham ging zum Apparat. Es war die Meldung, daß das Taxi, das er bestellt hatte, unten warte, aber er bat uns, den Wagen warten zu lassen, bis Gertrud sich völlig erholt habe. Jedoch sie erhob sich und nahm meinen Arm. Graham begleitete uns bis zur Treppe ins Foyer.
    »Sie haben über die Hinterlassenschaft Ihres Onkels in Melbourne bisher noch kein Wort verlauten lassen, Fräulein Drost«, sagte er, als wolle er sich vergewissern, daß sie sein Hauptanliegen, dessentwegen er die Reise eigentlich angetreten hatte, nicht etwa überhört habe.
    »Ach, Mister Graham«, antwortete Gertrud kopfschüttelnd mit einer kleinen, fast verschüchterten Stimme, »ich glaube, ich habe die Bedeutung dieser Erbschaft wirklich noch nicht in ihrem vollen Umfang begriffen. Hätten Sie mir gesagt, es wären zehntausend Mark oder zwanzigtausend, das wäre etwas anderes... aber sechzigtausend Pfund Sterling, mehr als eine halbe Million... das ist, als ob man hört, ein Stern sei tausend Lichtjahre von der Erde entfernt... Ich kann mir darunter absolut nichts vorstellen...«
    Graham beugte sich über ihre Hand und tauschte auch mit mir einen Händedruck: »Ich erwarte Sie also morgen. Ich werde das Hotel nicht verlassen, aber rufen Sie mich vorsorglich vor Ihrem Besuch an.«
    Wir gingen die Treppe hinunter und durchquerten die fast leere Hotelhalle. Unsere Gesichter in den Spiegeln an den Pfeilern erschienen mir wächsern und verzerrt. Der Portier öffnete uns die blinkende Messingtür, und der Chauffeur riß den Wagenschlag auf. Ich nannte ihm Gertruds Adresse.
    Der Wagen, ein nagelneuer großer Mercedes, setzte sich geräuschlos in Bewegung. Alles war traumhaft. Der leichte Waschbenzingeruch, der den grauen Polstern entströmte. Der blank gefahrene Asphalt, in dem sich die Bogenlampen und bunten Neonlichter spiegelten wie meinem träg dahinfließenden schwarzen Strom. Das Schwingen um die Kurven, die vorübergleitenden Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge. Die überscharf profilierten Häuserfronten. Und unser bleiernes Schweigen.
    Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Und ich fürchtete mich vor dem Augenblick, in dem Gertrud zu sprechen beginnen würde. Ich schwieg in der inbrünstigen Hoffnung, solange dieses Schweigen währte, sei nichts geschehen und alles, was uns heute begegnet war, sei nur ein Traum und die Ausgeburt der Phantasie gewesen. Und vielleicht ging es Gertrud genauso wie mir.
    Sie saß mit halbgeschlossenen Lidern und weit zurückgelehnt neben mir in dem weichen Polstersitz, und ich sah von ihr nur die Linie ihres Profils und den zarten Bogen der Kehle wie einen Scherenschnitt, der in den Rahmen des Fensters gespannt war. Aber so sehr ich es befürchtete, sie könnte das Schweigen brechen, so sehr bedrückte es mich, daß ihre Hand nicht den Weg zu meinen Händen fand. Sie hielt ihre Hände wie zum Gebet gefaltet im Schoß.
    Der Wagen hielt vor ihrem Hause. Der Chauffeur verließ seinen Sitz hinter dem Steuer und öffnete Gertrud den Wagenschlag. Gertrud schien sich besinnen zu müssen, wo wir uns befanden.
    »Du bist daheim«, nickte ich ihr zu, »versuch zu schlafen, gute Nacht...«
    »Es ist kein Traum…«, murmelte sie. Es klang wie eine an mich gerichtete Frage.
    »Nein, zum Teufel!« sagte ich laut und heftig, »es ist die reine Wahrheit! Leb wohl!«
    Ich sah Gertruds erschrecktes Gesicht und ihre großen Augen durch einen roten Schleier des Zornes, eines völlig

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