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Mein Onkel Ferdinand

Mein Onkel Ferdinand

Titel: Mein Onkel Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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ersten Juni begann mein Urlaub... Es muß der vierte Juni gewesen sein. Aber um das genau festzustellen, brauchen Sie nur den Portier anzurufen, Mister Graham...«
    Er sah mich verständnislos an.
    »Ja, den Portier dieses Hotels! Oder ist es Ihnen unbekannt, daß Mister Murchison im Savoy in den gleichen Räumen wohnte, die Sie jetzt genommen haben?«
    Wir sahen, daß sein an sich schon blutleeres Gesicht grau wurde, und daß er plötzlich die Hand gegen sein Herz preßte. Was hatte ich gesagt, daß er sich so erregte? Gertrud sprang neben mir auf...
    »Ist Ihnen nicht wohl, Mister Graham?«
    »Ein altes Herzleiden... «, murmelte er kraftlos, und die Farbe kehrte langsam wieder in seine Wangen zurück, »ein kleiner Schwächeanfall... Entschuldigen Sie mich, bitte, für einen Augenblick...«
    »Darf ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
    »Sehr liebenswürdig, aber ich besorge es selber. Meine Tabletten sind nebenan...« Er erhob sich und ging in das Schlaf-
    Zimmer hinüber. Wir hörten das Klirren von Glas und das zischende Geräusch des Wassers.
    »Was hatte er nur?« flüsterte ich Gertrad zu, »es sah geradeso aus, als hätte ihn meine Nachricht umgeworfen, daß Murchison hier gewohnt hat.«
    Nebenan läutete Mister Graham den Portier an. Er verlangte zu wissen, wann Murchison im Hotel eingetroffen war, und fragte, nachdem er die Antwort erhalten hatte, ob er für die Nacht ein anderes Zimmer bekommen könne. Anscheinend fragte man ihn, ob er mit dem Appartement nicht zufrieden sei, denn er antwortete ein wenig ungeduldig, daß die Räume durchaus in Ordnung wären und daß er sie behielte, nachdem er sie nun schon einmal bezogen habe, daß er aber zum Schlafen ein ruhigeres Zimmer in einem höheren Stockwerk wünsche. Damit hängte er ein und kehrte zu uns zurück. Das Wasser oder die Tabletten schienen ihn erfrischt zu haben.
    »Ronald Murchison ist tatsächlich am vierten Juni hier eingetroffen«, sagte er, nachdem er sich gesetzt hatte. »Er verließ London am gleichen Tage. Also muß er die kürzeste Verbindung gewählt haben. Wahrscheinlich das Flugzeug nach Frankfurt. Er muß seinen Entschluß, London zu verlassen, sehr eilig und überstürzt gefaßt haben, denn er wurde zu seiner plötzlichen Abreise durch einen Brief bewogen, der am dritten Juni in London eintraf und uns noch am gleichen Tage zugestellt wurde. Murchison hatte in unserem Büro die Aufgaben eines Privatsekretärs. Er trat öffentlich nicht in Erscheinung. Es oblag ihm unter anderem, unsere Post zu öffnen und uns die wichtigsten Eingänge sofort und die anderen je nach ihrer Dringlichkeit vorzulegen. Es war eine Art von Vertrauensposten, allerdings kein solcher, daß wir je auf den Gedanken gekommen wären, Ronald könne ihn mißbrauchen. Außerdem beobachteten wir ihn sorgfältig. Aber nichts an ihm oder in seinem Verhalten erregte unseren Argwohn, er könne wieder seiner alten Leidenschaft verfallen sein. Er tat seine Pflicht und benahm 6ich sehr zurückhaltend. Die Wahrheit ist, daß er auch jetzt wieder bis über den Hals in Spielschulden steckte. Schulden, deren Höhe uns in ihrem vollen Ausmaß noch nicht bekannt ist.«
    Graham griff nach einer schmalen, schwarzen Aktenmappe, die neben ihm auf einem Stuhl lag. Er öffnete den Reißverschluß und legte einige Papiere vor sich auf den Tisch.
    »In dieser verzweifelten Lage befand er sich, als in unserer Kanzlei jener Brief eintraf, den ich vorhin erwähnte. Der Einfall, sich durch ein Verbrechen zu sanieren, muß ihm im gleichen Augenblick gekommen sein, in dem er diesen Brief las und uns unterschlug. Der Brief kam aus Melbourne — von einem Kollegen, mit dem wir seit langen Jahren in geschäftlicher Verbindung stehen.«
    Graham zog ein Lederfutteral aus seiner äußeren Brusttasche und setzte eine randlose Brille mit goldenen Bügeln auf.
    »Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, Fräulein Drost«, sagte er und beugte sich ein wenig vor, als sähe er Gertrud durch die Lesebrille nur verschwommen, »daß Ihr Vater einen Bruder hatte. Johannes Drost...«
    »Gewiß...«, nickte Gertrud zögernd, »aber ich habe ihn nicht gekannt, und um es ganz genau zu sagen, es wurde daheim auch kaum von ihm gesprochen...«
    Graham hüstelte, als kenne er die Gründe, die die Familie Drost veranlaßt hatten, über den Verschollenen zu schweigen.
    »Dieser Johannes Drost verließ Deutschland vor mehr als vierzig Jahren und ließ sich im Jahre 1921 unter dem Namen John D. Drust in Melbourne nieder, wo er

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