Mein perfekter Sommer
einen Rückzieher machen kann, tauscht er Videokamera gegen Handschuhe und Knieschützer. In voller Schutzmontur gehe ich langsam auf den Baum zu, an dem »mein« Bike lehnt.
»Bremsen, Pedale … «, erklärt Ethan scherzhaft. Ich mache
den Helm fest und schwinge ein Bein über den Sattel. »Stimmt die Höhe?«
Ich nicke, keine Ahnung, ob ich’s merken würde, wenn nicht.
»Dann bist du bereit.«
Ich nehme meinen Mut zusammen, packe den Lenker und stoße mich mit den Füßen ab, auf Zehenspitzen gehe ich ein Stück voran, bis ich dann endlich loszuwackeln wage. »Viel Spaß!«, brüllt er hinter mir her, während ich die Bremsen umklammere, als ginge es um mein Leben. Langsam rolle ich den ersten Hügel hinab.
Okay, sage ich mir, du kannst das.
Der Boden ist matschig, der Matsch spritzt mir die nackten Beine hoch, als ich durch Pfützen fahre, aber mir scheint, solange ich die Bremsen nicht loslasse, bleibt die Geschwindigkeit unter der Herzinfarktgrenze. Dann schlucke ich meine Angst runter, halte Ausschau nach Hindernissen und Tieren und kurve den gewunden Pfad abwärts wie durch ein Minenfeld. Und für mich ist das auch eines.
Wieder muss ich mich über die in Stillwater gängige Definition von Spaß wundern.
»Lässt du jetzt irgendwann mal los?« Reeve kommt mir entgegen, er tritt schnell in die Pedalen. Dann fährt er eine Kurve und rollt auf gleicher Höhe neben mir her. Ich antworte nicht, sondern ziehe und löse den Bremshebel im schnellen Wechsel, damit alles unter Kontrolle bleibt. »Hier geht es schließlich um Geschwindigkeit!«
»Ich bleib lieber am Leben«, antworte ich und steuere
vorsichtig um einen kleinen Hügel herum, den er mit einem Satz nimmt.
»Und ich dachte, du wärst ’ne ganz Schnelle«, sagt er kryptisch, ehe er an mir vorbeischlittert und die nächste Kurve nimmt.
Ich fahre weiter, vom Bremsen kriege ich langsam einen Krampf in den Händen. Klammern, lösen, klammern, lösen. Dann wird die Strecke ebener und mir wird der größte Fehler an meiner »langsam aber stetig«-Strategie bewusst: Im Schneckentempo magichja tödliche Verletzungen vermieden haben, aber jetzt befinde ich mich vor meinem ersten Anstieg und ich hab nicht das geringste bisschen Schwung, das mich drüber hinweg tragen wird. Ich fang an zu treten und quäle mich mit knallharter Schenkelarbeit die Steigung hoch.
»Ich weiß«, sage ich meinen Beinen, die schmerzend protestieren. »Es ist nicht fair. Darauf habe ich euch nicht vorbereitet. Aber jetzt kann ich nicht aufgeben, wenn ich diese Fahrt nicht beende, werden sie mich nie respektieren.« Und da Reeves und Gradys Meinung von mir etwa gegen null tendiert, bleibt mir im wahrsten Sinne des Wortes nur ein Weg offen, der nach oben.
»Oh Gott, danke.« Erleichtert erreiche ich die Kuppe des Hügels. Der Rest der Strecke liegt vor mir, nichts als weitere steile Böschungen, Hügel und Kurven, die sich durchs Waldgelände ziehen. Wenn ich weitermache wie bisher, werde ich nie zum Ende kommen. Oder vielleicht …
Was soll’s.
Ich spreche ein stummes Gebet und lasse die Bremsen
los, doppelt so schnell wie vorher fliege ich den Abhang hinunter. Ich hüpfe über Zweige und Steine, klammere mich an mein Leben, aber es funktioniert. Der Schwung trägt mich den nächsten Hügel hoch und wieder runter, dieses Mal sogar noch schneller.
»Uihhh!«, ich kann den Schrei nicht unterdrücken, während ich dahinschieße. Es ist wie auf einer Achterbahn, nur ohne die Sicherheit, die ein fester Wagen und Schienen geben. Ich streife Zweige, ducke mich, weiche im Weg stehenden Bäumen vor mir aus, und währenddessen rast mein Herz noch schneller als die Räder.
Deshalb machen die also so was – für diesen Kick, das Adrenalin, das in meinen Adern Funken schlägt.
Ich schnappe nach Luft und fliege noch ein Stück weiter dahin, bis mein Bike schließlich langsamer wird. Oben auf einem steilen Abhang bleibe ich stehen, nehme meinen Helm ab und schüttele mein Haar, ich freu mich über die kühle Luft an meinem verschwitzten Hals. Ein unglaubliches Glühen verteilt sich in meinem ganzen Körper. Ich glaube nicht, dass ich mich je so gefühlt habe, so mutig und beglückt – und gleichzeitig halb tot vor Angst.
»He«, Grady hält neben mir, mit Schweißflecken auf seinem roten T-Shirt und Matschspuren im Gesicht. »Kannst du meinem Bruder sagen, er soll die Kamera nicht so an sich reißen? Reeve soll Bilder von mir schießen, wenn ich ein paar Sprünge mache,
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