Mein perfekter Sommer
vorstellen«, sage ich. »In so einer kleinen Stadt zu wohnen ist schon was anderes.«
»Mir gefällt es«, antwortet er schnell und guckt rüber. »Versteh das nicht falsch, ich freu mich aufs College. Ich hab mich an der UBC in Vancouver beworben und an der McGill
in Montreal – da sind dann über tausend Leute. Aber im Moment ist es irgendwie ganz schön bei uns. Ich kenne jeden, wir sind alle zusammen aufgewachsen …« Er lächelt verlegen. »Klingt wahrscheinlich bescheuert für dich.«
»Was? Warum?«
»Na ja, du bist aus einer großen Stadt.«
»Das denkst du also, was? Dass ich so ein aufgebrezeltes Stadthuhn bin?« Ich lache. »Ich hab mein ganzes Leben in Vorstädten verbracht. Ja, klar, ich kann in die City fahren, wenn ich was vorhabe und so, und mein Vorort ist viel größer als Stillwater, aber so toll ist das nun auch nicht. Ein Straßenzug nach dem anderen voller identischer Häuser, so weit das Auge reicht.«
»Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner, was?«
Ich lächele. »Aber in diesem Fall ist das Gras wirklich grüner hier. Und die Bäume und Flüsse …«
»Park hier ein«, unterbricht Fiona mich gebieterisch. Ich knirsche mit den Zähnen, folge aber ihren Anweisungen, rangiere und schaffe es, so präzise einzuparken, dass Ethan klatscht, als ich fertig bin.
»Danke, danke sehr!« Ich verbeuge mich.
»Scheißegal.« Fiona steigt aus und knallt die Tür zu. »Vor sechs könnt ihr nicht mit mir rechnen.« Sie haut ab Richtung Einkaufspassage, dabei wird sie beinahe von einem zurücksetzenden Lieferwagen erfasst, der Fahrer hupt, lehnt sich aus dem Fenster und beschimpft sie. Sie ignoriert ihn.
»Warte, Fiona!« Ich klettere aus dem Auto. »Wo gehst du hin? Es ist noch nicht mal Mittag. Wo treffen wir uns?«
Sie dreht sich um, zuckt mit den Schultern. »Glaubst du etwa, ich verbringe auch nur noch eine Minute mit euch beiden? Ruf mich heute Abend an!« Und mit diesen Worten verschwindet sie.
»Da bleiben dann wohl nur wir beiden übrig.« Ethan kommt zu mir, die Hände in den Hosentaschen, eine kleine Tasche umgehängt. Er schaut sich um und nimmt es anscheinend locker, dass er den Nachmittag mit mir verbringen wird. »Was ist der Plan?«
Ich sortiere mich neu und hole meine hingekritzelte Liste heraus. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass Fiona nicht dabei ist und über meine neue Aufgabe herzieht. »Also, bei einer Sache könnte ich deine Hilfe gebrauchen …«
»Du willst was haben?«, sagt Ethan ungläubig. Dreißig Minuten sind vergangen, wir haben in einem Formica-Imbiss die Hälfte unseres Eigengewichts an Pommes verzehrt. Und jetzt geht es an die Arbeit.
»Wanderschuhe und einen Rucksack«, bestätige ich. »Robuste Shorts, wasserdichte Socken … du verstehst.«
Wir stehen in einem riesigen Laden für Outdoorbedarf, inmitten von Regalen und Ständern voller teurer, funktionaler Kleidung. Wenn man sich die Label so ansieht, hat man den Eindruck, die geballten wissenschaftlichen Erkenntnisse der westlichen Welt seien dazu eingesetzt worden, Wanderer das entscheidende Bisschen trockener zu halten.
»Bist du sicher, dass du nicht einfach zu Gap willst?«, fragt er, immer noch ein wenig ungläubig.
»Ich brauche diese Sachen. Meine Sommerklamotten sind eher so aufs … Sonnenbaden ausgelegt«, gestehe ich ein. Die Videowand auf der anderen Seite des Ladens lenkt mich ab, zwei Kletterer hängen mit den bloßen Händen an einer vertikal abfallenden Felswand. Vom bloßen Hinsehen wird mir schon schwindelig, deshalb drehe ich mich schnell wieder zu Ethan um. »Ich möchte alles mitmachen können, was ihr Jungs so unternehmt«, erkläre ich. »Mal ehrlich, kannst du dir vorstellen, dass ich darin eine Wanderung mache?« Ich zeige auf meine Jeans, damit er weiß, was ich meine. Sie sind hauteng und haben ausgefranste Ränder, die geradezu danach schreien, sich in Baumwurzeln zu verheddern und mich kopfüber die Klippen runterzukatapultieren oder so.
»Okay, dann sorgen wir mal für eine Grundausstattung.« Ethan scheint sich langsam für die Aufgabe zu erwärmen. Er stemmt die Hände auf die Hüften und schaut sich um wie ein Abenteurer, der fremde Länder erobern will. Und genau so was brauche ich. »Wir fangen bei den Füßen an und arbeiten uns dann hoch.«
14. Kapitel
»Jenna! Telefon!«
Ich hieve meinen Kopf vom Kissen und schiele ungläubig auf mein Handy. Sieben Uhr morgens. Existiert tatsächlich menschliches Leben zu dieser Zeit? Menschliches
Weitere Kostenlose Bücher