Mein perfekter Sommer
Felsen bis zum richtigen Gipfel, links von mir ein steiler Abhang.
»So.« Reeve grinst stolz. »Das war es doch wert, findest du nicht?«
Ich schaue über das Tal. Er hat recht. Für einen Moment kann ich all meine Schmerzen und Qualen vergessen. Es ist wirklich total atemberaubend. Eine dunkelgrüne Decke aus Bäumen, graue Berge unter dem grauen Dunst der Wolken, sogar … »Ist das Schnee?« Mit zusammengekniffenen Augen blinzele ich zu den fernen Gipfeln hinüber.
Reeve trinkt hastig aus seiner Wasserflasche, dann wischt er die Öffnung mit seinem Hemd ab und reicht sie mir weiter. Er nickt. »Auf einigen Kämmen schmilzt er nie. Die Rockys sind zu hoch, da kann es in den Tälern heiß wie im Backofen sein.«
»Wow.« Kaum zu glauben, wie weit sich der Horizont erstreckt. Ich hole die Kamera heraus und fange an zu filmen, dabei zittere ich ein bisschen.
»Brauchst du einen Pullover?«, fragt Reeve.
»Was? Oh, nein, ich hab einen.« Als ich mir meine Strickjacke wieder anziehe, fängt es an zu tröpfeln. Ich halte mein Gesicht den Wolken entgegen, das Wasser kühlt meine verschwitzte Haut so angenehm.
Er guckt sich um. »Am besten suchen wir für eine Weile Schutz.«
Ich lache. »Das ist doch nur ein bisschen Regen.« Bei diesen Worten grollt der Donner übers Tal. »Oder auch nicht.«
»Komm.« Reeve zeigt auf die andere Seite der Lichtung, wo eine kleine Holzhütte beinahe versteckt zwischen den Bäumen liegt.
»Das ist jetzt die Stelle, an der du sagst: Hab ich dir’s nicht gesagt. Richtig?«, scherze ich, während wir auf den Wetterschutz zurennen.
»Genau!« Reeve lacht. Er wartet, bis ich drinnen bin, bevor er mir nachkommt. Drinnen – das ist irgendwie übertrieben, stelle ich fest. Die Hütte besteht nur aus einem Dach und drei Wänden ein Stück vom Abhang entfernt. Der Boden ist aus einfachem Zement voller Sand und Butterbrotpapier, das andere, weniger rücksichtsvolle Wanderer zurückgelassen haben müssen. Reeve kickt es beiseite und setzt sich an die hintere Wand. Regen und Wind toben vor der offenen Vorderseite.
Ich setze mich zu ihm, nur zu gern strecke ich die Beine aus. »Halleluja …«, seufze ich und lockere die Schuhe. Hier drinnen ist es nicht wärmer, aber zumindest pfeift der Wind nicht um uns herum. »Was ist das hier?«
»Eine Schutzhütte.« Reeve macht es sich bequemer auf dem harten Boden. »So was gibt es hier auf allen Gipfeln, hauptsächlich gegen Schneestürme.«
»Klettern Leute denn im Schnee auf diese Dinger?«
Er schmunzelt. »Ich behaupte ja nicht, dass das eine gute Idee ist.«
Schweigend sitzen wir eine Weile da, der Regen trommelt gleichmäßig auf das Dach. Der Ausblick, der eben noch so klar war, ist jetzt völlig verschleiert. Draußen hat sich alles in Wolken gehüllt, das ist ein Gefühl, als wären wir die letzten beiden Menschen auf der Welt. Ich durchwühle meinen Rucksack nach einem Müsliriegel und biete Reeve wortlos die Hälfte davon an. Nickend nimmt er an und wir sitzen da und beobachten den Regen, der in dicken Bahnen fällt. Ein Blitz zuckt über den Himmel, dicht gefolgt von erneutem Donnergrollen.
Das Gewitter muss direkt über uns sein.
»Sind wir hier drinnen sicher?«, frage ich nervös.
»Sicherer als draußen«, sagt er, aber kurze Zeit später wird mir klar, dass damit meine Frage nicht so richtig beantwortet ist. »Hast du Angst?«
»Vorm Gewitter? Nein.« Ich geb ihm einen kleinen Stoß mit dem Ellenbogen. »So erbärmlich bin ich nicht.«
Reeve lächelt mich kurz an. »Sorry.«
»Eigentlich mag ich sie – Gewitter, mein ich. All diese Geräusche und der Wind …« Ich zucke zusammen, als ein neuer Blitz das Tal erleuchtet, und schlinge die Arme ganz fest um meinen Körper. »Aber normalerweise sitze ich ganz gemütlich innerhalb von vier festen Wänden, die mich von all dem da draußen trennen.« Während ich rede, wirkt Reeve zunehmend abgelenkt, er schaut raus in den strömenden Regen und schließlich unterbricht er mich.
»Sekunde. Ich muss mal was nachsehen.« Er steht auf, seine Umrisse zeichnen sich einen Moment lang in der offenen Tür ab, dann verschwindet er in die Richtung, aus der wir gekommen sind.
»Reeve?« Ich springe auf und rufe ihm nach, aber bald kann ich ihn zwischen den Bäumen nicht mehr sehen. Einen Moment lang bin ich in Panik und frag mich, ob er mich hier sitzen gelassen hat, doch dann fällt mir wieder ein, wie geduldig er bei dieser Klettertour gewesen ist. Reeve ist nicht der
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