Mein perfekter Sommer
Typ, der einfach abhaut.
Zitternd warte ich, bis er ein paar Minuten später, durchnässt und tropfend, wieder auftaucht.
»Wir müssen aufbrechen.« Er sieht besorgt aus. Er war nur kurz draußen, aber sein Sweatshirt ist schon total durchweicht.
»Was? Bei diesem Wetter?«, protestiere ich. »Da draußen donnert es immer noch.«
»Ich weiß, aber der Pfad ist jetzt schon viel zu matschig.« Er greift nach seinem Rucksack und schnürt sich die Schuhe. »Das ganze Wasser strömt diesen Pfad runter und draußen wird es dunkel. Wenn wir noch viel länger warten, sitzen wir die ganze Nacht hier fest.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hat es einen gewissen romantischen Reiz, mit Reeve auf einem Berggipfel festzusitzen. Dann fällt mir aber ein, wie kalt, nass und hungrig ich bin. »Okay, rennen wir los.«
»Nicht rennen«, sagt Reeve, seine Stimme ist leise und klingt ernst. »Sonst rutschst du aus und brichst dir den
Hals. Echt, Jenna, du musst ganz vorsichtig sein da draußen.«
Demütig nicke ich, dann nehme ich mich zusammen und folge ihm.
Sobald ich einen Schritt hinaus gemacht habe, überwältigt mich der Lärm. Nicht nur der Donner, der immer noch gelegentlich grollt, sondern das Geräusch des Regens selbst, der so laut auf jeden Felsen, jeden Ast trommelt, dass sonst kaum etwas zu hören ist. Ich bin klein und unbedeutend in einer riesigen grauen Welt. Trotz allem, was ich Reeve erzählt hab, fürchte ich mich nun doch.
Wir hätten mit Fiona und Grady zurückgehen sollen.
»Pass auf, wo du hintrittst!«, brüllt Reeve mich an. Ich laufe hinter ihm den Pfad hinunter, versuche seiner Route durch den tückischen Matsch und die Wasserströme, die den schlichten Sandweg hinunter sprudeln, haargenau zu folgen. Innerhalb von Minuten ist meine dünne Strickjacke durchweicht, Wasser rieselt mir den Rücken hinunter und der Regen vereist meine nackten Beine. Ich knirsche mit den Zähnen und gehe weiter.
Wir schaffen es, einen ziemlich schnellen Schritt beizubehalten, ein Tempo, das langsamer ist als Joggen, aber schneller als Gehen. Das steile Gefälle, das meinen Schenkeln auf dem Weg nach oben so viel Kummer gemacht hat, bereitet mir jetzt nicht weniger Probleme, als ich schlittere und rutsche und versuche, das Gleichgewicht zu halten. Aus fünf Minuten werden zehn, dann zwanzig. Das Gelände wird ebener, als wir hinunter in den großen Wald abgestiegen
sind, aber meine Haut ist ganz betäubt von der Kälte und sogar in meinen angeblich wasserdichten Schuhen schwappt mir das Wasser um die Zehen.
Ich wünschte wir wären sonst wo, nur nicht hier.
»Alles okay?« Reeve schaut sich nach mir um. Ich kann mir vorstellen, wie ich aussehe, das Haar klebt mir an den Wangen und meine Zähne klappern. Ich nicke, fest entschlossen, nicht zu zeigen, wie total elend ich mich fühle, und stapfe weiter auf ihn zu. Konzentrier dich auf Wärme, sage ich mir. Ausgedehnte Schaumbäder. Heiße Schokolade. Suppe. Irgendwas Weiches, Trockenes und …
Plötzlich zerrt Reeve mich an sich, seine Hand packt meinen Arm.
»Aua!«
Er drückt mir die andere Hand auf den Mund und hält mich fest. »Rühr dich nicht«, flüstert er mir ins Ohr. »Keinen Mucks.«
Die Dringlichkeit seines Tones lässt mich erstarren, der Protest erstirbt auf meinen Lippen.
»Was ist?«, flüstere ich. Er ruckt den Kopf in die Richtung, in die wir gegangen sind und ich folge seinem Blick zwischen die Bäume vor uns.
Ein Bär trottet langsam durch den Wald.
24. Kapitel
Ich höre auf zu atmen.
»Bleib ruhig«, flüstert Reeve, sein Mund ist an meinem Ohr. »Noch hat er uns nicht gesehen.«
Das Tier ist riesig, um einiges größer als ich, und es bewegt sich mit einem seltsam schwankenden Gang. In dem dämmrigen Licht sieht man noch, wie schwarz der Pelz ist. Mein Herz rast, während der Regen nach wie vor auf uns runter schüttet. Über Bären weiß ich nicht viel, nur, dass sie töten und verstümmeln und – ach ja, töten. Bange denke ich an den halb gegessenen Müsliriegel in meinem Rucksack.
Oh Gott.
Ich zittere, Reeve hält mich fest im Arm. Durch unsere dünnen durchweichten Kleider spüre ich seinen hetzenden Herzschlag. Wie erstarrt stehen wir da, beobachten, wie der Bär schnüffelt und am Boden herumtatzt. Jeder Augenblick wird zur Ewigkeit, ich versuche zu vermeiden, mir ein Dutzend gruselige Enden vorzustellen.
Über den Tod denke ich nie nach. Nicht so richtig, ich empfinde höchstens mal aufflackernde Besorgnis, wenn ich
mich
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