Mein perfekter Sommer
auf eine Lichtung am See führt. Nur ist dieser überhaupt nicht mit dem in Stillwater zu vergleichen.
»Oh, wow«, hauche ich und schaue mich um. Das Wasser ist tief und blau und von dichtem Wald umrahmt, aber das ist noch nicht alles: Hunderte von Blumen säumen das Ufer, ihre Blätter ruhen auf dem Wasser und breiten sich bis zur Mitte des Teiches hin aus. »Sind das Seerosen?« Die kleinen weißen Blüten und die dunkelgrünen Blätter sehen genauso aus wie in dieser Monet-Ausstellung, zu der Mom mich mal in New York geschleift hat.
Reeve nickt. Mit den Händen in den Hosentaschen steht er neben unseren Sachen, fast so, als würde er auf meine Reaktion warten. Ich hüpfe praktisch zu ihm zurück.
»Das ist fantastisch!« Ich schlinge ihm die Arme um den Hals und küsse ihn begeistert. »Nicht zu fassen, wie schön das ist.«
»Cool.« Ein Lächeln geht über Reeves Gesicht. »Hab ich mir gedacht, dass es dir hier gefällt. Du hast die Kamera
doch dabei, oder? Dann kannst du alle möglichen Fotos machen, wenn du willst.«
»Das mach ich!« Ich dreh mich wieder um, der Ausblick ist faszinierend. »Ist das Wasser hier okay, kann man schwimmen?« Ich hab die Schuhe schon von mir geschleudert, ehe er nickt.
Bis auf den Bikini ausgezogen, wate ich hinaus in den See. Das Wasser ist natürlich eiskalt, aber ich schiebe mich weiter vor, Matsch quillt zwischen meinen Zehen. Ist mir egal. Überall um mich herum dümpeln Seerosen sachte auf der Wasseroberfläche, sie hüpfen, als meine Bewegungen Hunderte von Kräuseln über den See schicken. Es ist unglaublich, aber ich stehe mittendrin und werde überwältigt von einer seltsamen Traurigkeit, so als wüsste ich, dass dies ein Augenblick ist, den ich nie wiederbekommen werde.
Ich schau mich um und versuche mir alles einzuprägen. Das grelle Sonnenlicht, das meinen Schatten umreißt, die herrliche Blütendecke, die mich umspielt, wie jeder Schritt Matschwolken aufwirbelt, die das klare Wasser trüben … und Reeve, der mich immer noch vom Ufer her beobachtet. Langsam und zitternd atme ich aus.
»Komm rein!«, brülle ich, zwinge die Traurigkeit zu weichen und verbanne den Gedanken an die ordentlichen Druckbuchstaben auf Susies Kalender, die das Ende von all dem hier markieren. »Das Wasser ist herrlich!«
An diesem Tag faulenzen wir einfach nur Stunden am Wasser herum. Reeve zeigt mir, wie man Steine über die ruhige
Oberfläche flitzen lässt, er sucht perfekte flache Scheiben für mich aus und biegt mein Handgelenk in genau die richtige Position, sodass sie bis zur Mitte des Sees hinaus hüpfen. Wir essen hastig geschmierte Brote aus der Kühltasche und die scharfen Chilibrownies seiner Mutter, reden über unsere Pläne für die Schule und über unsere Familien, bis die Sonne sinkt und die Luft ziemlich kühl wird.
Bis ich wieder bei Susie bin (Reeve lässt mich wieder hinter der Kurve raus, damit niemand was sieht), ist es schon fast sechs.
»Jenna, hast du meinen roten … oh, entschuldige.« Susie kommt rein ohne anzuklopfen, als ich mich gerade umziehe.
»Den roten Pullover?« Ich richte mich auf, in Bikini-Oberteil und Shorts. »Ich glaub, der war unten in der Küche.«
»Danke.« Sie zögert und guckt mich einen Moment lang an. »Hm. Okay.« Dann geht sie rückwärts raus und stolpert beinahe, weil sie nicht schnell genug wegkommen kann. Verwundert starre ich ihr hinterher, aber erst als ich mich im Kommodenspiegel sehe, begreife ich, warum sie so hektisch geworden ist.
Ein Knutschfleck.
Ich geh näher an den Spiegel heran, vor Peinlichkeit könnte ich im Boden versinken. Der kleine Fleck befindet sich direkt unter dem Schlüsselbein, er wäre überhaupt nicht aufgefallen, wenn ich nicht nur das Bikinioberteil angehabt hätte. Ich ziehe ein Sweatshirt über und überlege, ob es eventuell möglich wäre, Susie aus dem Weg zu gehen, in den nächsten fünf Jahren.
Ist es nicht. Nach dem Abendessen wird vorsichtig an meine Tür geklopft. »Jenna? Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Klar.« Ich drehe die Musik leiser, aber sie wartet immer noch vor der Tür. »Du kannst jetzt reinkommen«, rufe ich.
Sie drückt sich zur Tür rein, irgendwie guckt sie komisch. »Also, wegen vorhin …«
Ich schlucke. »Äh … ja?« Meine Stimme klingt ganz hoch und quietschig.
Susie setzt sich auf die Bettkante und fixiert mich mit dem Blick der verständnisvollen Mutter. »Schon in Ordnung, Jenna. Du musst mir nichts erklären. Du bist ja praktisch
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