Mein perfekter Sommer
zu überlassen. »Aber, wart mal.« Ich zögere, dann spreche ich so leise weiter, dass mich die Mitreisenden nicht hören können. »Soll das heißen, dass du da oben mit Cash zusammenwohnen wirst? So als Paar?«
Sie lacht. »Jenna! So doch nicht. Wir sind in Schlafsälen untergebracht, Männer und Frauen getrennt. Glaubst du etwa, meine Eltern wären sonst einverstanden gewesen?«
»Vielleicht nicht.« Trotz all ihrer Geschichten vom freien Leben reagieren Livvys Eltern überängstlich, sobald Jungs ins Spiel kommen. »Na, egal, das ist wirklich toll! Wir werden beide die besten Sommerferien aller Zeiten erleben.«
»Ich weiß!«
Vier Stunden später langweilt mich die faszinierende Landschaft immer noch nicht, die vor dem Fenster vorbeizieht, aber diese Busfahrt hängt mir ernsthaft zum Hals raus. Meine Beine tun weh, mein Hintern ist ganz taub und Henri (der französische Rucksacktourist neben mir) schläft tief und fest, ein dünner Spuckefaden zieht sich bis zu seiner Schulter. Alle paar Minuten murmelt und schnaubt er und
rutscht immer weiter auf mich zu. Ich rücke von ihm ab und rufe Olivia noch mal an. Meine Eltern haben mir vor meiner Abreise ein Upgrade für internationale Gespräche spendiert, zwar eigentlich für Notfälle, aber … »Na, dann erzähl mir mal mehr über dieses Campding.«
»Total faszinierend«, antwortet sie sofort, als hätten wir nie aufgelegt. »Bis jetzt hab ich nur Broschüren gesehen, aber es ist aufgezogen wie ein Retreat, mit Yoga am Morgen und …
»Wart mal, ich glaub meine Haltestelle wird aufgerufen«, unterbreche ich sie, denn vorn im Bus wird was gebrüllt.
»Stillwater!«, ruft der Fahrer noch mal.
»Ich steig aus!«, ruf ich. »Livvy, ich ruf dich wieder an, sobald ich richtig angekommen bin, okay?«
»Grüß Susie von mir!«
Ich raffe Rucksack, iPod und Zeitschriften zusammen, manövriere mich über Henri hinweg – der immer noch selig sabbert – und stolpere die Stufen hinunter. Mein übervoller Koffer steht schon vor mir auf dem Boden, so prall, dass die Nähte jeden Moment zu platzen drohen, aber ehe ich noch irgendeine Frage stellen kann, schließen die Türen sich zischend, der Bus rollt wieder langsam auf die Fahrbahn und lässt mich am Rand einer staubigen Teerstraße zurück.
Allein.
Verwirrt schaue ich mich um. Die Straße ist leer, lediglich ein schlichter Pfahl kennzeichnet die Haltestelle. Dicke Bäume, wohin man auch schaut, über dem Tal von Fels gesäumt,
aber es ist kein Gebäude oder Busbahnhof in Sicht. Und von Susie eindeutig keine Spur.
Ich versuche anzurufen, aber sie geht nicht an ihr Handy. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, in dieser riesigen Kulisse komme ich mir ziemlich klein vor. Zu Hause gibt es überall einen von Menschenhand geschaffenen Horizont, Plakatwände, Hochhäuser oder Flugzeuge, die über den Himmel sausen. Darüber habe ich mich immer geärgert, aber jetzt wünsche ich mir beinahe eine Tankstelle herbei, damit ich mich nicht ganz so einsam fühlen muss. Die Straße ist der einzige Hinweis auf menschliches Leben im ganzen Tal.
Dann atme ich die Bergluft ganz tief ein – frisch und kühl ist sie, wie Dutzende Mal gefiltert – und rufe mir ins Gedächtnis, dass allein was Gutes ist. Nur ich und die Natur, so wie ich es immer haben wollte. Ich bin Thoreau, draußen am Walden Pond, ich bin Eustace Conway, der die Appalachen überquert. Ich bin …
Hungrig. Und ich muss aufs Klo.
Ich schau mich um und hoffe, dass sich auf der staubigen Straße ein Fahrzeug materialisiert, aber der Asphalt ist leer. Er schlängelt sich sanft, in der einen Richtung geht es zum Highway zurück, in der anderen verschwindet er im dichten Wald. Moment mal. Ich blinzele die Blätterwand an, die mir die Sicht versperrt. Könnte es sein, dass ich total blöd bin und dass Stillwater gleich hinter der Kurve liegt?
Meiner Blase gefällt dieser Gedanke, sehr sogar. Abgesehen davon, was wäre die Alternative? Hier rumzustehen
und drauf zu warten, dass es dunkel wird? Ich schlucke und stelle mir vor, was da alles im Wald lauern und nur auf den Einbruch der Nacht warten könnte.
Ich hieve den Rucksack auf die Schultern und mache mich auf den Weg die Straße hinunter.
Bedauerlicherweise liegt Stillwater nicht gleich hinter der nächsten Kurve. Oder der dahinter. Und spätestens als kalter Nieselregen einsetzt, ist ganz klar, dass mein Rollenkoffer nicht für den Geländeeinsatz geschaffen wurde. Nachdem er tapfer
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