Mein russisches Abenteuer
Tage nach dem Zarenmord, im Juli des Bürgerkriegsjahrs 1918,
hatte die Rote Armee Jekaterinburg aufgegeben. Weißgardisten besetzten die
Stadt, die zusammen mit Hunderten von Freiwilligen nach den Überresten der
Zarenfamilie suchten. Ein übergelaufener Rotarmist führte sie schließlich zu
einem stillgelegten Schacht am Stadtrand. Im Inneren entdeckte man das Gebiss des
kaiserlichen Leibarztes, die Rasputin-Amulette der Zarentöchter und einen
abgeschnittenen Finger. Letzterer gehörte, wie sich später herausstellte, der
Zarin. Ihre Mörder hatten ihn abgetrennt, weil einer ihrer Ringe so fest saß,
dass er sich nicht lösen ließ.
Im Schacht stieß man auf Brandspuren und Überreste von
Schwefelsäure. Eine weiße Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass die
Leichen komplett vernichtet worden waren. Erst 1991, als man ihre verstümmelten
Überreste ein paar Kilometer entfernt ausgrub, stellte sich heraus, dass der
Schacht nur eine Zwischenstation gewesen war.
Trotzdem steht neben dem verschütteten Stollen heute ein neugebautes
Kloster. Es steht hier, weil die orthodoxe Kirche bis heute am
Untersuchungsbefund von 1918 festhält: Der Stollen ist die letzte Ruhestätte
der Zarenfamilie, Überreste gibt es nicht. Wladimir, ein junger Seminarist, der
mir das Klostergelände zeigte, sprach mit merklichem Widerwillen über die
beigesetzten Knochen in Sankt Petersburg. »Sie sind nicht echt«, sagte er. »Ich
weiß nicht, wessen Knochen es sind, aber mit der Zarenfamilie haben sie nichts
zu tun.« Die staatliche Bestattungszeremonie von 1998, die die Kirche
boykottiert hatte, hielt er für eine politische Inszenierung. »Jelzin wollte
seine Schuld wiedergutmachen, weiter nichts.«
Ich nickte, ohne ihn zu verstehen. Überall in Russland hatte ich die
Ikonen der Zarenfamilie gesehen. Sie wurden als Märtyrer verehrt, aber ihre
Reliquien wollte die Kirche nicht anerkennen – ich begriff es nicht.
»Was ist daran so unverständlich?«, fragte Wladimir, als er meine
Zweifel bemerkte. »Reliquien wirken Wunder, Menschen beten zu ihnen. Die Kirche
kann nicht zulassen, dass in ihrem Namen häretische Heiligtümer verehrt werden.
Niemand weiß, ob diese Knochen echt sind. Selbst die Wissenschaftler können es
nicht beweisen.«
Das Jekaterinburger Bezirkskrankenhaus Nummer 1 liegt im
Südosten der Stadt. Vogelgezwitscher erfüllte das Klinikgelände, es war ein
sonniger Vormittag. Patienten schoben quietschende Infusionsständer über den
Asphalt, ein Arzt studierte beim Rauchen Röntgenaufnahmen. Nichts deutete
darauf hin, dass in der Mitte dieser Heilanstalt eine unheilbare Wunde klaffte.
Ich brauchte eine Weile, um die Leichenhalle zu finden. Als ich
schließlich vor ihr stand, war ich plötzlich nicht mehr sicher, was ich hier
eigentlich zu suchen hatte. Im Inneren des Gebäudes, so viel wusste ich, waren
in den Neunzigerjahren die exhumierten Überreste der Zarenfamilie untersucht
worden. Zwei der Kinder waren bis heute nicht beigesetzt – in Sankt Petersburg
hatte ich ihre leeren Grabnischen gesehen. Niemand hatte mir sagen können, wo
sich die fehlenden Toten befanden. Vermutlich lagen sie immer noch hier, in der
Leichenhalle.
An der Schmalseite des Betonbaus fand ich eine verschlossene
Stahltür. Als ich klingelte, wurde sie einen Spalt weit geöffnet. Eine weiß
bekittelte Frau sah mich fragend an.
»Verzeihung«, sagte ich so harmlos wie möglich. »Werden hier die
Zarenknochen aufbewahrt?«
Misstrauisch hob die Frau eine Augenbraue. »Wer sind Sie?«
Ich erklärte es ihr. Donnernd fiel die Tür ins Schloss. Na gut,
dachte ich, den Versuch war es wert.
Dann ging die Tür wieder auf. Die Frau schob einen Arm durch den
Spalt und zeigte auf ein Nebengebäude. »Reden Sie mit meinem Chef. Dritter
Stock.« Die Tür fiel zu, diesmal endgültig.
Der Chef der weiß bekittelten Frau hieß Wladimir Gromow. Er war
Pathologe – kraft seines Amtes brachte er Ordnung ins Chaos des Todes. Seit
fast zwanzig Jahren beschäftigte er sich mit dem Zarenmord, und sein Kinnbart,
die Fotos auf seinem Schreibtisch bewiesen es, war über dieser Beschäftigung
grau geworden. Grauer und ein bisschen spitzer, man könnte sagen: zaristischer.
Als ich es aussprach, lachte Gromow. Er lachte gerne. Besonders, wenn er ernste
Sätze sagte.
»Wenn mein Leben irgendeinen Sinn hat«, sagte er, »dann ist es die
Aufklärung dieses Falls.«
Vor fast zwei Jahrzehnten hatte man ihm einen Haufen Knochen auf den
Obduktionstisch
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