Mein russisches Abenteuer
auf ganzer Linie. Die Erkundung des Geländes hatte
kaum begonnen, als zwei Schuljungen die Forscher auf eine ringförmige Kette aus
Erdwällen hinwiesen. Sdanowitsch sah sich die Erhebungen näher an. Sie sahen
aus wie der Grundriss einer Stadt. Einer Steppenstadt.
An jenem Abend feierten die Archäologen bis weit nach Mitternacht.
Zwar war vorerst kaum abzusehen, was sich unter den Erdwällen verbarg, aber
allen Beteiligten war klar, dass es einen vergleichbaren Fund in der Uralsteppe
bisher nicht gegeben hatte. Die beiden Schuljungen wurden mit einer Büchse
süßer Kondensmilch belohnt – zu Sowjetzeiten kein knausriges Geschenk.
Dreiundzwanzig Jahre später war Sdanowitsch immer noch anzumerken,
wie sehr ihn der Fund bewegte. Als wir die Ausgrabungsstelle erreichten, blieb
er feierlich stehen. Einen Moment lang betrachteten wir schweigend sein
Lebenswerk. Sdanowitsch ließ den rechten Arm schweifen. »Eine Stadt«, sagte er,
»erbaut vor viertausend Jahren, mitten in der Steppe. Wer hätte das für möglich
gehalten?«
Was Sdanowitsch mir zeigte, sah auf den ersten Blick nicht
spektakulär aus. Schemenhaft waren in den Bodenverfärbungen einer flachen Grube
die Spuren verschwundener Bauwerke zu erahnen. An ihrer Stirnseite stand das
rekonstruierte Fragment einer hölzernen Stadtmauer. Das war alles. Dieses
Wenige aber hatte gereicht, um Russlands Blick auf die Steppe für immer zu
verändern.
Lange war dieser Blick von Furcht geprägt gewesen. Der lückenlose
Grasgürtel der Steppe, der von Nordchina durch ganz Sibirien und halb Europa
bis an die Schwarzmeerküste reicht, hatte jahrhundertelang zwei Welten
geschieden. Nördlich von ihm, in den kühleren Waldgebieten, lebten sesshafte
Völker wie die Slawen; südlich, in der Steppe, lebten Nomaden. Lange fiel die
Grenze zwischen beiden Vegetationszonen mit der Südgrenze des moskowitischen
Zarenreichs zusammen: Wo der Wald endete, begann das Gras; wo das Gras begann,
endete Russland.
Erst mit der Eroberung Sibiriens im 17. Jahrhundert, vor allem aber
mit Russlands Südexpansion unter Katharina der Großen überwand die Landesgrenze
ihre vegetativen Beschränkungen. Die Steppe jedoch blieb im historischen
Bewusstsein der Russen eine Gefahrenzone, ein Ort des Fremden, der Barbarei.
Unvergessen war die demütigende Unterwerfung durch die Mongolen, unvergessen
waren die Überfälle turksprachiger Tatarenstämme, die Russlands südlichste
Siedlungen über Jahrhunderte hinweg terrorisiert hatten. Wie aus dem Nichts
waren diese nomadischen Reitervölker über die sesshaften, weniger beweglichen
Russen hergefallen, um ebenso plötzlich und spurlos wieder in der Steppe zu
verschwinden. Es hieß, dass man sie riechen könne, bevor man sie höre, und dass
man sie höre, bevor man sie sehe.
Später, als die Nomadenvölker des Südens zu Untertanen des Zaren
wurden, schlug die russische Angst in Verachtung um. Die Steppenbewohner, einst
gefürchtete Gegner, wurden nun als rückständige Barbaren wahrgenommen, die es
zu bekehren galt, erst zum Christentum, später zum Sozialismus, vor allem aber
zur Sesshaftigkeit. Dass ihre stursten Vertreter es noch im 20. Jahrhundert
vorzogen, in Jurten zu leben, kränkte die Russen in ihrem Selbstverständnis.
Das Nomadentum der Steppe war ein geschichtlich überwundener Irrweg. Dem
Waldmenschen fiel die historische Pflicht zu, den Wiesenmenschen sesshaft zu
machen.
Die Entdeckung von Arkaim warf dieses Geschichtsbild komplett
durcheinander. Sdanowitsch und seine Kollegen entdeckten die
Hinterlassenschaften eines Steppenvolks, das nicht nomadisch, sondern in
Städten gelebt hatte, in der Bronzezeit, fast drei Jahrtausende, bevor die
Slawen geschichtlich in Erscheinung getreten waren. Mehr noch: Die Funde ließen
auf eine hochkomplexe Zivilisation schließen. Man stieß auf Spuren von etwa
siebzig Häusern, angeordnet in zwei konzentrischen Ringen, umgeben von einer
Doppelreihe hölzerner Festungsmauern. Jedes Haus hatte einen eigenen Ofen
gehabt, einen Brunnen, einen Abwasserkanal. Die Bewohner hatten Ackerbau und
Viehzucht betrieben, sie hatten Erz, Gold und Kupfer abgebaut. In ihren
Grabkammern fanden sich nicht nur geschmiedete Sicheln, Äxte, Pfeil- und
Lanzenspitzen, sondern auch die ersten Streitwagen der Weltgeschichte, die man
bis dahin in Ägypten verortet hatte.
Als Sdanowitsch und seine Kollegen die umliegende Gegend
erschlossen, stießen sie auf Überreste weiterer Siedlungen, weniger gut
erhalten als Arkaim, aber
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