Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
Sankt Petersburg
raunte, die Uralsteppe sei die Wiege der Menschheit. Eine Moskauerin mit
leuchtend roten Haaren offenbarte sich als Jüngerin des Feuerpropheten
Zarathustra, der, wie sie mir versicherte, in Arkaim geboren worden war.
    Ich sprach mit Heiden und Christen, Muslimen und Schamanisten,
New-Age-Priestern und Ufologen. Trommeln hallten durch die nachtschwarze
Steppe, Feuerkünstler jonglierten mit Fackeln. Durch die Zeltstadt zog ein Guru
in Orange, gefolgt von tanzenden Jüngern, deren Dauermantra überall zu hören
war: »Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare …«
    Als sich die kürzeste Nacht des Jahres ihrem Ende näherte, sammelten
sich die Pilger auf einem Hügel, um den Sonnenaufgang zu erwarten. Die Trommeln
verstummten, die Lieder, die Mantren, zuletzt die Gespräche. Als der erste rote
Schein über dem Horizont auftauchte, lag vollkommene Stille über der Steppe.
Viele Pilger schlossen die Augen, das Gesicht nach Osten gewandt. Andere hoben
die Hände in den Himmel und erstarrten zu kosmischen Antennen. Staunend
wanderte mein Blick von einem erleuchteten Gesicht zum anderen. In jedem stand
eine andere Frage geschrieben, jeder hier suchte einsam nach Antworten. Was die
Menschen verband, war allein das Rätsel Arkaim.

Die Leichenhalle von Jekaterinburg
    Von Arkaim aus nahm ich einen Bus Richtung Norden. Nach
ein paar Kilometern stieg ein alter Mann zu, dessen Arme von den Ellbogen bis
zu den Fingerspitzen in Mullbinden eingewickelt waren. Schwankend ging er durch
den Bus, die Arme vor sich her balancierend wie ein sperriges Gepäckstück. Der
Zufall wollte es, dass er sich auf den freien Platz neben mir setzte.
Verzweifelt starrte er seine bandagierten Hände an. Einer dunklen Eingebung
folgend sprach ich ihn an: »Ein Hund?«
    Erst als er sich zu mir umdrehte, sah ich die Tränen in seinen
Augen. »Ich habe ihm nichts getan«, schluchzte er. »Er ist einfach auf mich
losgegangen!«
    Um ihn zu trösten, zeigte ich ihm meine eigenen Hände, die halbwegs
verheilt waren. Die Verbände hatte ich in Arkaim abgelegt, nur ein paar
verschorfte Stellen und grüne Seljonka-Reste erinnerten noch an den Unfall.
    Die Straße schlängelte sich am Rand des Urals entlang. Unterwegs
passierten wir mehrfach Schilder, die den Übergang zwischen Europa und Asien
markierten – in Zickzackbewegungen kreuzte der Bus zwischen den Kontinenten. Es
passte zu meiner Stimmung. Seit meiner Flucht aus Sibirien hatte ich jeden
Gedanken an die Taiga vermieden. Ich wusste, dass das Ziel meiner Reise
ostwärts lag, aber die gescheiterte Bootstour steckte mir immer noch so in den
Knochen, dass es mich instinktiv nach Europa zog.
    Ich beschloss, mich eine Weile mit anderen Dingen zu beschäftigen,
um Kraft für einen zweiten Anlauf zu sammeln. Auch wenn ich vorerst keine
Ahnung hatte, wie dieser zweite Anlauf aussehen sollte.
    Nach einer unruhigen Nachtfahrt kam ich in Jekaterinburg an.
Staunend ging ich durch die Stadt. Ich hatte eine gesichtslose
Industriemetropole erwartet, wie ich sie in den letzten Wochen zu Dutzenden
gesehen hatte. Stattdessen entdeckte ich eine Provinzschönheit. Stadtvillen mit
klassizistischen Fassaden säumten den Ostrand des Urals, als besinne sich
Russland hier ein letztes Mal auf den europäischen Teil seiner Seele, bevor
Asien das Ruder übernimmt. Gegründet 1723, kurz vor dem Tod Peters des Großen,
wirkt die Stadt stellenweise wie ein sibirisches Spiegelbild von Sankt
Petersburg. Bloß ist sie kein »Fenster nach Europa«. Sie ist der Fehdehandschuh
an Asiens Wange.
    Jekaterinburgs berühmteste Villa gibt es nicht mehr. Das
Ipatjew-Haus, in dessen Keller 1918 die Zarenfamilie ermordet wurde, verschwand
in einer Julinacht des Jahres 1977. Den Abrissbefehl erteilte der örtliche
Parteisekretär, ein gewisser Boris Jelzin, der seine Entscheidung später als
»schändliche Barbarei« bezeichnete. Heute steht auf dem Gelände eine Kirche,
die »Kathedrale auf dem Blut«. Eingeweiht wurde sie 2003, kurz nachdem in Sankt
Petersburg die exhumierten Überreste der Zarenfamilie beigesetzt wurden, in
Anwesenheit eines zerknirschten Boris Jelzin.
    Im Innenraum der Kathedrale, dämmrig von Kerzen erleuchtet, sah ich
Pilger vor den Ikonen der heiliggesprochenen Zarenfamilie beten. Flüsternde
Lippen berührten die gemalten Umrisse von Nikolaj und Alexandra, die schmalen
Mädchenkörper der Prinzessinnen, das Gesicht des kindlichen Thronfolgers, als
könnten Küsse sie zum Leben erwecken.
    Acht

Weitere Kostenlose Bücher