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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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geschüttet. Die Anweisung des russischen Generalstaatsanwalts
lautete sinngemäß: Finde heraus, wessen Überreste das sind. Gromow und seine
Kollegen begannen zu puzzeln. Sie setzten die Einzelteile des Knochenbergs zu
neun Skeletten zusammen. Sie führten Schädelformstudien und molekulargenetische
Analysen durch, wälzten zaristische Krankenberichte und Zahnarztdiagnosen,
verglichen historische Fotos, nahmen Blutproben von Nachkommen der
Romanow-Dynastie. Am Ende legten sie der Staatsanwaltschaft eine Liste vor.
     
    Skelett 1: Kammerzofe Anna Demidowa
    Skelett 2: Leibarzt Jewgenij Botkin
    Skelett 3: Prinzessin Olga Romanowa
    Skelett 4: Zar Nikolaj II. Romanow
    Skelett 5: Prinzessin Anastasija Romanowa
    Skelett 6: Prinzessin Tatjana Romanowa
    Skelett 7: Zarin Alexandra Romanowa
    Skelett 8: Leibkoch Iwan Charitonow
    Skelett 9: Kammerdiener Aloisi Trupp
     
    Die Staatsanwaltschaft stutzte. Da fehlten zwei. Man hatte
den Zaren gefunden, seine Frau und vier Bedienstete, aber nur drei von vier
Töchtern und keinen Sohn. Das allerdings war ein rein staatsanwaltschaftliches
Problem, kein pathologisches. Für Gromow war der Auftrag abgeschlossen, der
Knochenberg abgetragen.
    Sechzehn Jahre später aber, im Sommer 2007, legte man ihm wieder
einen Knochenberg auf den Tisch. Ein paar hundert Meter von der ersten
Fundstelle entfernt waren nach langem Suchen weitere Leichenreste entdeckt
worden. Diesmal war der Knochenberg wesentlich kleiner. Er bestand aus
Fragmenten, die sehr viel gründlicher verstümmelt, verbrannt und verätzt worden
waren als die ersten Knochenfunde. Mit DNA -Analysen
stellten Gromow und seine Kollegen fest, dass die Fragmente zu zwei
verschiedenen Personen gehörten, einer männlichen und einer weiblichen, beide
eng verwandt mit Zar Nikolaj.
    Gromow lächelte. »Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent sind
es Alexej und Maria. Wenn wir das Geld für weitere Untersuchungen hätten,
könnten wir die Wahrscheinlichkeit auf 99 Prozent erhöhen, vielleicht sogar auf
99,9 Prozent – aber niemals auf 100 Prozent.«
    Er zog einen kleinen, silbernen Kreuzanhänger aus dem Revers seines
Arztkittels. »Ich bin Christ. Ich weiß, dass man nicht zu 98 Prozent glauben
kann, man kann nur glauben oder nicht glauben. Aber als Pathologe kann ich
keine hundertprozentigen Befunde liefern. Deshalb wird die Kirche die Fragmente
nie anerkennen. In diesen fehlenden zwei Prozentpunkten liegt der ganze
Unterschied zwischen Wissenschaft und Glauben.«
    Das allerdings war ein rein theologisches Problem, kein
pathologisches. Als Gromow die Untersuchung der Knochen abgeschlossen hatte,
übermittelte er seinen Befund an die Staatsanwaltschaft, die im Frühjahr 2008
ihre Ermittlungen einstellte. Der Fall war gelöst.
    Dann aber geschah etwas Merkwürdiges. Es geschah: nichts.
    In einem Metallschrank in der Leichenhalle von Jekaterinburg lagern
noch immer 44 Plastiktüten, markiert mit handnummerierten Zetteln. Sie
enthalten zertrümmerte, verkohlte, säureentstellte Knochenfragmente, das größte
etwa zwanzig Zentimeter im Durchmesser, das kleinste gerade noch mit bloßem
Auge erkennbar. Seit zwei Jahren gibt es keinen Grund mehr, warum die Knochen
hier lagern sollten. Aber es kommt auch niemand, um sie abzuholen. Zwei
Zarenkinder warten auf ihre Beerdigung. Die Gräber sind bereit, die Menschen
beten zu ihnen. Es findet sich bloß kein Totengräber. Gromow sitzt auf den
Knochen, er wird sie nicht los.
    Fragend sah ich ihn an. »Sie meinen, der Staat zögert, weil er die
Kirche kein zweites Mal brüskieren will?«
    Der Pathologe zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Vielleicht auch
nicht. Niemand weiß es.« Er seufzte. »Ich glaube, es ist wie immer in Russland.
Niemand rührt sich, solange kein Machtwort von ganz oben kommt.« Es waren die
ersten Sätze, bei denen Gromow nicht lachte.
    »Es ist seltsam«, sagte er, als wir uns verabschiedeten. »Der Zar
ist tot, wir haben ihn umgebracht. Aber wir tun so, als gäbe es ihn immer noch.«

Die letzte Schlacht der Kosaken
    Vom Ural aus ließ ich mich westwärts durch die Steppe
treiben, zweitausend Kilometer weit, bis das grüne Meer jäh vor dem Schwarzen
Meer endete. Ein gewittriger Hochsommerhimmel hing über der Bucht von Asow. Der
Wind kräuselte das Wasser, das Gras und die Schnurrbartspitzen eines Händlers,
der auf der Uferpromenade Souvenirs verkaufte. Auf seinem Tisch lagen Säbel und
Peitschen, Sättel und Sporen, Orden und Uniformmützen. Als ich das Sortiment
sah,
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