Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
in der alten Kosakenhauptstadt Starotscherkassk, am Ufer des Don, ein
paar Kilometer stromaufwärts von Rostow. Die Kosaken hatten ihre schönsten
Mützen aufgesetzt und tranken mit Tränen in den Augen auf das Wohl des
Vaterlands. Zwischen ihnen saß ein sehr alter Mann in einer abgewetzten
Felduniform. Er erzählte Weltkriegsgeschichten, denen außer mir niemand
zuhörte. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass mit seinem Veteranenmonolog
etwas nicht stimmte.
    »… die Sonne ging gerade auf, als wir merkten, dass sie uns
eingekesselt hatten. Verdammte Bolschewiken, schrie Petja, denen zeigen wir,
was ein Kosake ist …«
    »Bolschewiken?«, unterbrach ich ihn. »Auf welcher Seite haben Sie
gekämpft?«
    Mit einem herausfordernden Grinsen drehte er sich zu mir um. »Auf
keiner, junger Mann. Für einen freien Don haben wir gekämpft – einen Don ohne
Stalin.«
    Irritiert sah ich ihn an. Ich wusste, dass einzelne Kosaken im Krieg
zur Wehrmacht übergelaufen waren, aber ich war sicher, dass keiner von ihnen
überlebt hatte – man hatte sie später geschlossen an die Sowjetunion
ausgeliefert.
    »Ich dachte, die Überläufer seien alle hingerichtet worden!«,
platzte ich heraus.
    Der alte Mann lachte ein trockenes Lachen. »Komm mich besuchen«, sagte
er. »Ich zeige dir mein Todesurteil.«
     
    Einen Tag später fuhr ich nach Kriwjanskaja, eine kleine
Siedlung östlich von Rostow. Wasilij Piwowarow lebte in einem winzigen
Steinhaus, in dessen zwei Zimmern er fünf Kinder großgezogen hatte. Wasska,
Fedja und Serjoschka waren tot, Lenka und Antoschka seit Langem aus dem Haus.
Piwowarows Frau war vor ein paar Monaten gestorben. Das kleine Haus kam ihm
jetzt manchmal sehr groß vor.
    Er schlug acht Eier in eine gusseiserne Pfanne. Als er sie
herauskratzte, waren sie unten angebrannt und oben roh. Wir aßen sie mit weißem
Schweinefett und schwarzem Brot.
    Die Felduniform hing an einem Haken über dem Bett. Es war ein heißer
Sommertag, Piwowarow trug Boxershorts. Seine Beine waren sehr dünn. Obwohl er
Tag für Tag seine vier Eier aß, war er im Alter stark abgemagert. Piwowarows
rechtes Knie war steif, er konnte es nicht beugen. Seit fünfundsechzig Jahren
schleppte er dieses unbeugsame Bein jetzt mit sich herum, er hatte gelernt,
sich damit zu arrangieren. Wenn er sich in seinen Sessel fallen ließ, ragte das
Bein waagerecht aus den Polstern. Das waagerechte Bein war noch dünner als das
senkrechte Bein.
    Er schüttete eine Kiste voller Dokumente und Fotos auf sein Bett.
Nach kurzem Wühlen zog er einen vergilbten Papierstreifen aus dem Haufen. Die
Maschinenschrift war verblasst und kaum noch lesbar, ich erkannte nur die
Jahreszahl 1947 und das Wort »Erschießen«.
    Piwowarow wischte sich die Eier aus dem Schnauzbart und begann seine
Erzählung.
    »Ich wurde im Gefängnis von Nowotscherkassk geboren, im Jahr 1925.«
    Am Don hatte gerade der Bürgerkrieg geendet. Piwowarows Eltern,
Kosaken aus Kriwjanskaja, hatten auf der falschen Seite gekämpft – oder auf der
richtigen, je nachdem. Sie landeten im Gefängnis. Den Vater erschossen die
Bolschewiken, bevor sein Sohn zur Welt kam, die Mutter unmittelbar nach der
Geburt. Zwei Gefängniswärter brachten den schreienden Säugling nach
Kriwjanskaja und gaben ihn die Obhut einer Kosakenfamilie.
    Dass seine Zieheltern nicht seine echten Eltern waren, erfuhr
Piwowarow erst, als er acht Jahre alt war. Der Schuldirektor zitierte ihn in
sein Kabinett. Weißgardistenbrut!, schrie der Direktor, dachtest wohl, wir
erkennen dich nicht? Er riss Piwowarow den roten Stern mit dem Lenin-Porträt
von der Brust, das Abzeichen der Oktoberkinder. Dann jagte er ihn aus der
Schule.
    Weinend lief Piwowarow nach Hause. Mama, heulte er, bin ich eine
Weißgardistenbrut?
    In die Schule konnte er nicht zurück. Stattdessen wurde er
Hirtenjunge. Als er etwas älter war, lernte er Traktorfahren. Er half in der
Kolchose aus, bis der Krieg begann.
    Als die Deutschen den Don einnahmen, ging Piwowarows Ziehmutter in
den Gartenschuppen. Sie hebelte eine Planke aus dem Boden, darunter war eine
Grube. Die Ziehmutter zog einen Kosakensäbel aus der Grube, einen Sattel, einen
Revolver, einen Karabiner. Im Hof band sie ein Pferd los, eine junge Stute, die
Zügel drückte sie Piwowarow in die Hand. »Die Kosaken formieren sich«, sagte
sie. »Geh und schreib dich ein.«
    So kam es, dass Wasilij Piwowarow zur Wehrmacht überlief, zusammen
mit zweihundertfünfzig anderen Freiwilligen aus Kriwjanskaja.
    »Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher