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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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nicht aus dem Schnee.
    Messerstiche: achtundzwanzig,
    Einschusslöcher: fünf.
    Dies Gewand, dies bittere,
    Nähte ich dem Freund.
    Blut liebt sie und immer Blut,
    Blut liebt Russlands Erde.
    (Anna Achmatowa, 1921)
     
    Was ist, wenn unsre Saat nicht aufgeht,
Lenin.
    Ich habe dieses Land mit Blut gedüngt
    Mit Menschenleibern eine Industrie
    Gestampft in meinen Knochenmühlen, ich
    Der große Stalin, der Führer der Völker.
    (Heiner Müller, 1995)

Man schlägt sich, man verträgt sich
    »Was ist das Ziel Ihrer Reise?«
    Der Stempel des Grenzbeamten schwebt über meinem Pass. Eine Antwort
noch, eine richtige, dann bin ich auf russischem Boden.
    »Moskau.«
    Der Grenzbeamte verzieht das Gesicht. »Moskau! Mit welchem Ziel reisen Sie nach Russland?«
    Einen Moment lang weiß ich es selbst nicht mehr. Ich suche eine
altgläubige Einsiedlerin, aber ist das ein Ziel?
    »Ich bin Journalist, ich arbeite für eine deutsche Zeitung.«
    Der Stempel zögert.
    »Ich schreibe über Russland.«
    Ungeduldig rammt der Stempel meinen Pass: Rossija 02.03. 2010.
     
    Zwischen Schnee und Himmel verschwamm der Horizont. Dann
schob sich Moskau dazwischen, Stück für Stück. Datschensiedlungen zogen am
Zugfenster vorbei, Autowracks, Menschen in Pelzmützen. Blasse Schweine, die
Rüssel im Schnee vergraben. Ein Kraftwerk, ein Möbelhaus, der Rohbau einer
Kirche. Autokolonnen in kleeblattförmigen Asphaltschleifen, das Spinnennetz der
Hochspannungsleitungen. Dann Plattenbauten. Mehr Plattenbauten, ein Meer aus
Plattenbauten.
    In Kiew hatte ich mich am Ende fast wehmütig von den Betonvierteln
und ihrem maroden Charme verabschiedet, doch Moskaus monotone Maßlosigkeit
fegte diese Erinnerungen brutal aus meinem Gedächtnis, wie das Brüllen einer
Symphonie nach einer milden Ouvertüre. Benommen stellte ich sinnlose Rechnungen
auf: Fensterreihen multipliziert mit Stockwerken multipliziert mit Straßenzügen
– wie viele von Moskaus fünfzehn Millionen Einwohnern rasten in einem Atemzug
an mir vorüber? Unzählbar und unsichtbar bevölkerten sie ihre Betonwaben, ein
industrieller Bienenschwarm, Arbeitskraft, portioniert und gestapelt für
staatliche Verwendungszwecke.
    Das sowjetische Moskau wurde erbaut als Hauptstadt eines
Traumreichs, als Mittelpunkt einer weltumspannenden Utopie, deren Ziel das
Glück aller Menschen war. Mit dem großen Umbau, der in den Dreißigerjahren
begann, waren die Moskauer nicht immer ganz glücklich, aber sie verstanden,
dass das große Menschheitsglück wichtiger war als ihr eigenes kleines
Menschenglück. Verständnisvoll stimmten sie ein, wenn bei den sowjetischen
Paraden die Nationalhymne gesungen wurde: »Die Welt der Gewalt zerstören wir
bis auf den Grund, um unsere Welt, die neue Welt zu erbauen.« Mit Gewalt drehte
Stalin das alte, zaristische Moskau durch den Wolf, so lange, bis der letzte
Rest Gewalt aus ihm herausgepresst war. Als sich die Stadt am Ende erneuert
über den Trümmern der alten Welt erhob, als nichts mehr dem Glück aller
Menschen im Weg stand, weil alle Ausbeuter versklavt, alle Saboteure erschossen
und alle Konterrevolutionäre in ihrem Blut ertränkt worden waren, da sprachen
die Moskauer voller Verständnis die Losung nach, die Stalin vorgab, um sein
Werk zu preisen: »Das Leben ist besser geworden! Das Leben ist lustiger
geworden!«
    Nach dem Schlachtfest kam das Richtfest. Die alten Götter waren
gestürzt, die neuen zierten nun die Dächer und Giebel der frisch erbauten
Moskauer Paläste. Ein steinernes Pantheon muskulöser Schweißer und stattlicher
Melkerinnen hielt Einzug im Himmel über der Hauptstadt. Ich sah die
Proletarier-Statuen an den Zugfenstern vorbeifliegen, als ich mich dem
Stadtzentrum näherte, verwitterte Wächter einer verworfenen Utopie. Sie sahen
müde aus. Zu lange hatten sie das Glück der Menschheit auf ihren Schultern
getragen. Erleichtert überließen sie diese Bürde nun den Reklametafeln, mit
denen sie neuerdings die Dächer teilten.
    Ich hatte vorab ein Zimmer gemietet. Meine Hauswirtin, eine
deprimierte Chemikerin in den Vierzigern, sprach durchweg im Plural: »In der
Wohnung ziehen wir die Schuhe aus.« – »Die Waschmaschine benutzen wir nur am
Wochenende.« – »In diesem Supermarkt kaufen wir nicht ein.« Ich wurde das
Gefühl nicht los, den Platz eines desertierten Liebhabers eingenommen zu haben,
der aus ihrem Leben verschwunden war, aber nicht aus ihren Sätzen. Als ich am
dritten Tag nach meiner Ankunft einen Moskauer Freund traf, der mir
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