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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Schulter und sagte: »Willkommen in
Russland.«
    Wieder verbrachte ich den Tag in der Redaktion. Als ich abends nach
Hause kam, hing die Wohnungstür immer noch schief in den Angeln. In der Küche
hörte ich Stimmen. Ich öffnete die Tür und hätte den Raum fast rückwärts wieder
verlassen. Am Tisch saßen Wanja, seine Mutter – und Arsenij. Er war gerade
dabei, drei Gläser mit Wodka zu füllen. Als er mich sah, sprang er auf und lief
grinsend auf mich zu. Instinktiv wollte ich ihm ausweichen, aber er legte mir
seine Maulwurfspranken auf die Schultern und redete auf mich ein. Unsicher sah
ich Wanja an.
    »Er sagt: Komm an den Tisch, trink mit uns.«
    Entgeistert schüttelte ich den Kopf.
    »Er sagt: So ist das in Russland – man schlägt sich, man verträgt
sich.«
    Ich wollte um nichts in der Welt mit diesem Mann an einem Tisch
sitzen. Hilflos suchte ich Wanjas Blick. Er sah nicht glücklich aus.
    »Ich bin müde«, sagte ich schließlich. »Entschuldigung. Es war eine
lange Nacht.«
    In meinem Zimmer knipste ich die Deckenlampe an und setzte mich
unschlüssig auf mein Bett. Lange starrte ich einen Fleck an der Wand an, den
ich vorher nie bemerkt hatte. Ich fühlte mich plötzlich fremd, unsagbar fremd,
wie ein unerwünschter Gast, der nichts versteht und alles falsch macht. Aus der
Küche hörte ich Arsenijs Lachen und das Klirren von Gläsern, während in meinem
Kopf ein neues Puzzlestück seinen Platz einnahm. Man schlägt sich, man verträgt
sich. Ich konnte es nicht. Ich fühlte mich schmerzhaft unrussisch.
    Arsenij sah ich nie wieder. Auch Lena verschwand spurlos. Wenn ich
Wanja oder seine Mutter nach den beiden fragte, zuckten sie nur mit den
Schultern.
     
    Acht Jahre später war Wanja noch immer der schmale,
nachdenkliche Junge, den ich im Gedächtnis hatte. Nur in seinen Augen war eine
unvertraute Intensität, ein Ausdruck früher Lebensklugheit, der mir bei
russischen Mittzwanzigern öfter auffiel als bei gleichaltrigen Westeuropäern.
Ich hatte mir dieses frühere Reifen immer damit erklärt, dass Russen früher die
Schule abschließen, früher studieren, arbeiten, heiraten und Kinder bekommen,
dass sie früher gezwungen sind, einen Alltag zu meistern, von dessen Härten
meine eigene Jugend verschont war. Anders aber als die meisten seiner
russischen Altersgenossen nahm Wanja sich Zeit mit dem Leben. Ein
Literaturstudium hatte er abgebrochen, seitdem schlug er sich als
Kameraassistent durch. Nachts schrieb er Drehbücher, die er eines Tages selbst
verfilmen wollte.
    In der Wohnung, die wir vor acht Jahren geteilt hatten, lebte er
schon lange nicht mehr. Seine Mutter hatte kurz nach der Geschichte mit Arsenij
eine kleine Neubauwohnung gekauft, die sie ihrem Sohn überlassen hatte, als sie
wenig später mit einem neuen Mann zusammenzog. In den beiden kleinen Zimmern
erkannte ich vieles wieder – die Bücher, inzwischen ergänzt um diverse
Regalreihen Philosophie, die CD -Sammlung, in der
experimentellere Stilrichtungen den Gitarrenrock verdrängt hatten. Zwei Katzen,
Pusja und Pascha, die in der alten Wohnung oft auf meinem Bett geschlafen
hatten, waren mit Wanja umgezogen, und ihr bevorzugter Platz war auch im neuen
Quartier das Sofa, auf dem ich in den folgenden zwei Monaten schlief.
    Unvertraut waren die Ikonen. Auf jeder Fensterbank und jedem
Regalbrett in der Wohnung standen kleine, auf Holztafeln gedruckte
Heiligenbilder, deren unverwandte Blicke ich in den ersten Tagen fast
körperlich spürte. Unbeobachtet fühlte ich mich nur bei völliger Dunkelheit.
Plötzlich konnte ich nachvollziehen, warum russische Frauen in frommeren Zeiten
die Ikonen in ihren Schlafzimmern zur Wand gedreht hatten, bevor sie sich der
Sünde hingaben.
    Wanjas Freunde rissen oft Witze über die Ikonen. Er ignorierte sie
mit der gleichen Geduld, mit der die Heiligen es hinnahmen, dass unter ihren
Augen gesündigt wurde. In seinem Freundeskreis war Wanja der Einzige, der eine
eigene Wohnung hatte, alle anderen lebten bei ihren Eltern oder teilten sich
enge Zimmer in Studentenwohnheimen. Wanja ging großzügig mit seinem Privileg um
– fast jeden Abend saßen Bekannte in der Küche, viele blieben über Nacht,
manche hatten eigene Wohnungsschlüssel, sie kamen und gingen, egal ob Wanja zu
Hause war oder nicht. An den Wochenenden war an Schlaf kaum zu denken. In immer
neuen Schüben drängten Freunde und Freunde von Freunden in die Wohnung, die
Partys endeten oft zwei Tage in Folge nicht, sie verlagerten sich nur

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