Mein russisches Abenteuer
in
unberechenbaren Intervallen von Zimmer zu Zimmer. Dass ich in solchen Nächten
überhaupt schlief, verdankte ich dem angeborenen russischen Respekt vor
ausländischen Gästen. Sobald ich auch nur gähnte, sprang jemand auf und
rüttelte die Studenten wach, die auf meinem Sofa schliefen. Bereitwillig
räumten sie den Platz und rollten sich auf dem Teppich zusammen, anspruchslos
wie Katzen.
Viele der Gesichter, die in jenen Wochen an mir vorbeizogen, verschwimmen
in meiner Erinnerung, ein paar aber prägten sich ein: Samer, der Halb-Libanese
mit den Mädchenaugen, Sandra aus Litauen, Ljocha aus Weißrussland, Airat, der
tatarische Radiosprecher mit der Honigstimme, die winzige Xenia, der bärtige
Koljan, die dunklen Prinzessinnen Nika und Jana. Und Sascha – jener Sascha, der
mir eines Nachts in den Notizblock diktierte, dass es die russische Seele nicht
gibt. Danach tat er praktisch alles, um den Satz zu widerlegen. Selten sah ich
ihn nüchtern. Nie schlief er mehr als vier Stunden, nie blieb er länger als
vier Stunden wach. Er weigerte sich, über Banalitäten zu sprechen – je simpler
die Fragen, desto komplizierter seine Antworten, selbst wenn es nur um den
Morgenkaffee ging. Kaffee? Warum willst du, dass ich Kaffee trinke? Willst du
gar nicht? Warum bietest du mir dann welchen an? Will Gott, dass ich Kaffee
trinke? Wenn er es will, warum wächst dann in Russland kein Kaffee? Wenn er es
nicht will, warum lässt er zu, dass du mir Kaffee anbietest?
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee, als ich Sascha eines Morgens
halbnackt aus der Dusche kommen sah. Hilflos hustend starrte ich ihn an.
»Mein deutscher Freund«, sagte er, »du wirkst verstört.«
»Geht schon«, keuchte ich. »Warum hast du ein Hakenkreuz auf dem
Rücken?«
Er grinste. Die Tätowierung saß genau zwischen seinen
Schulterblättern. »Das, mein deutscher Freund, ist kein Hakenkreuz, sondern
eine indische Swastika. Sieh genau hin. Sie dreht sich rechtsrum, nicht
linksrum.«
Er hatte das Symbol als Kind in einem Museum gesehen, und als ihn
Jahre später Freunde in ein Tätowierstudio mitnahmen, setzte sich das Sonnenrad
in Bewegung, es rollte aus seiner Erinnerung auf seinen Rücken. »Mein Großvater
hat mich damals genau so angestarrt wie du. Erst hat er kein Wort rausgebracht,
dann sagte er: Hübsch. Mehr nicht. Viel geredet hat er nie. Großmutter sagte
immer: Lasst ihn in Ruhe, der Krieg hat ihm die Sprache verschlagen. Ich dachte
immer, dass er eines Tages doch noch anfangen würde, von den Faschisten zu
erzählen, aber dann war er plötzlich tot. Mein Gott! Ich hoffe, es lag nicht an
der Swastika!«
Ich schlief wenig in den zwei Monaten, die ich in Moskau verbrachte,
und ich trank zu viel. Trotzdem konnte ich es abends oft kaum erwarten, aus der
Stadt in die Wohnung zurückzukommen. Erst nach einer Weile begriff ich, woran
das lag. Wanja und seine Freunde verbanden mit der Sowjetunion nur vage
Kindheitserinnerungen. Sie gehörten zur ersten Generation von Russen, die nur
noch aus Erzählungen wissen, was ihr Land hinter sich hat. Genau diese
Erinnerungslosigkeit war es, die mich erleichterte, wenn ich abends nach Hause
kam, verstört von Begegnungen mit Menschen, die die Vergangenheit nicht hinter
sich lassen können.
Der Zahlendreher
Mitten im März wurde der Winter wütend. Er wusste um sein
baldiges Ende und leugnete es umso heftiger, wie ein Kind, das nicht ins Bett
will. Fauchende Schneeböen jagten horizontal durch die Straßen, die
Spaziergänger liefen ihnen rückwärts entgegen. Tagelang stürzten und stürzten
die Temperaturen, bis ich eines Morgens aufwachte und den Himmel nicht mehr
sah. Alle Scheiben waren zugefroren. Eisblumen umrankten die Ikonen auf dem
Fensterbrett.
Auf der Straße hielt man es nicht lange aus. Wer Geld hatte, ging
zum Aufwärmen in ein Café, wer keins hatte, ging in eine Buchhandlung. Die
bemühte West-Atmosphäre der Cafés hatte ich bald über, lieber folgte ich den
Rentnern, die in ihren verblassten Daunenjacken durch die Buchläden schlichen.
Ich sah sie ziellos zwischen den Regalreihen auf und ab laufen, mit klammen
Fingern befühlten sie Buchrücken, sprachen flüsternd einzelne Titel aus. Als
ich mir die Bücher näher ansah, wurde ich den Eindruck nicht los, dass mancher
Gast hier nicht Wärme suchte, sondern Trost.
Wer finanziert Russlands Niedergang?
Genozid am russischen Volk: Sie nennen es
Kapitalismus
Geheime Fronten: Wie der Westen Russland
umzingelt
Ein düsteres Flüstern
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