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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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abgelöst, in deren Kellergeschoss wir nun saßen.
    Eine kleine Pause entstand, als Vater Kirill seine Erzählung beendet
hatte.
    »Was ist aus der Datschensiedlung geworden?«, fragte ich. Die Frage
ging mir seit einer halben Stunde nicht aus dem Kopf.
    Vater Kirill sah mich verständnislos an. »Was soll aus ihr geworden
sein? Nichts.«
    »Sie meinen, es gibt sie noch?«
    Er nickte.
    »Da leben immer noch Geheimdienstler?«
    Wieder nickte er. »Oder ihre Familien. Viele der alten KGB -Leute sind inzwischen tot.«
    In seiner Stimme war keinerlei Zorn. Ungläubig sah ich ihn an.
    »Ich verstehe Ihr Entsetzen«, sagte er. »Ich habe selbst lange so
empfunden. Aber mit Zorn kann man keine Kirche bauen. Als unsere Arbeit hier
begann, haben wir entschieden, keine Steine zu werfen.«
    Ein paar Sekunden lang starrte er ins Leere, als versuche er, sich
an etwas zu erinnern.
    »Ich erzähle Ihnen eine Geschichte«, sagte er dann. »Ich hatte einen
Schulfreund, einen Jungen namens Sergej. Sein Vater war KGB -General,
er hatte eine Datscha hier. Ich kannte Sergejs Vater, seit ich klein war. Er
war ein zerrütteter Mensch. Im Krieg hatte er dermaßen schreckliche Dinge
erlebt, dass niemand in seiner Nähe das Thema anschneiden durfte. Er feierte
nicht einmal den Siegestag, was sonst jeder tut in Russland. Nach dem Krieg hat
man ihn gezwungen, für den Geheimdienst zu arbeiten. Er wollte es nicht, aber
er hatte nicht die Kraft, abzulehnen, die Konsequenzen wären verheerend
gewesen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen es gibt, die in seiner Situation
abgelehnt hätten. Viele können es nicht sein.«
    Er bekreuzigte sich, bevor er fortfuhr. »Als Sergejs Vater im
Sterben lag, rief er einen Priester zu sich. Ich selbst war damals noch nicht
geweiht, aber ich kannte den Priester, den man ihm schickte, er hat mir später
davon erzählt. Seitdem ich selbst Priester bin, habe ich vielen Sterbenden die
Beichte abgenommen, und ich weiß, dass kaum jemand vor dem Tod über seine
Sünden nachdenkt. Die meisten Menschen bitten Gott darum, ihnen die Schmerzen
abzunehmen oder für ihre Angehörigen zu sorgen – ich verurteile das nicht, ich
stelle es nur fest. Bei Sergejs Vater war es anders. Der Priester, der ihm die
Beichte abnahm, hat mir keine Einzelheiten erzählt. Er sagte nur, dass er noch
nie ein derart radikales Bekenntnis erlebt hat.«
    Vater Kirill schwieg. Leiser Chorgesang hatte seine letzten Sätze
begleitet, im Obergeschoss begannen die Gottesdienstvorbereitungen. Ich
begriff, dass das Gespräch seinem Ende zuging.
    Vater Kirill stand auf. »Die Ikonen haben Sie gesehen?«
    Ich nickte. »Sie sind … eigenartig.«
    Erstaunt sah er mich an. Dann begriff er, dass wir uns
missverstanden hatten. »Sie meinen die Bilder im Obergeschoss«, sagte er
lächelnd. Er schien nicht viel von ihnen zu halten. »Ich rede von anderen
Ikonen. Kommen Sie mit.«
    Er führte mich ins dunkle Mittelschiff der Unterkirche. Als er das
Licht einschaltete, stiegen die Toten aus ihren Gräbern. Dreihundert Augenpaare
sahen uns an. Die Ikonen säumten alle vier Wände, auf jedem Bild standen fünf
oder sechs Heilige nebeneinander, die Hände zur Segensgeste erhoben. Die
Märtyrer von Butowo hatten die schmalgliedrigen Silhouetten und die
maskenhaften Gesichter der alten russischen Ikonen. Unwillkürlich musste ich an
Komarowskij denken, den ermordeten Maler. Ich wusste, dass er nicht zu den
Heiliggesprochenen gehörte, aber im Stil der Ikonen war seine Handschrift zu
erahnen.
    Schweigend betrachteten wir die Bilder. Einer der Märtyrer musste
Kaledas Großvater sein. Wie fragt man taktvoll nach einem heiliggesprochenen
Familienmitglied? Als ich die Frage stellte, führte er mich zu einer der
Ikonen. Sechs Märtyrer sahen uns an. Vater Kirill bekreuzigte sich, dann neigte
er den Kopf und küsste den Holzrahmen des Bilds.
    »Der zweite von links.«
    Wladimir Ambarzumow, tot seit 73 Jahren, musste im Leben ein ähnlich
charismatischer Mann gewesen sein wie sein Enkel. Die Ikone abstrahierte seine
Gesichtszüge, aber erkennbar blieb ein Ausdruck von Willensstärke, der ihn von
den umstehenden Heiligen abhob.
    Ich hatte plötzlich das Gefühl, ein Familiengeheimnis anzustarren,
das mich im Grunde nichts anging. Als ich mich gerade abwenden wollte, hörte
ich Vater Kirill lachen. Ich sah ihn an. Der ganze Ernst des vorhergehenden
Gesprächs war plötzlich von ihm abgefallen, grinsend entblößte er zwei
Goldzähne, die ich erst jetzt bemerkte. Er deutete auf

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