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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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die Ikone.
    »Fünf Mal musste ich sie ummalen lassen, bis sie Großvater endlich
ähnlich sah.«
     
    Hüfthoher Schnee bedeckte das Polygon. Vom Eingang bis zur
alten Holzkirche war ein scharfkantiger Tunnel freigeschaufelt, der Rest des
Geländes war weiß und unkenntlich, nur ein paar kahle Obstbäume und Birken
ragten aus dem Schnee. Im Lauf des Frühlings kehrte ich mehrmals zurück nach
Butowo, und erst nach der Schneeschmelze sah ich die grasüberwachsenen
Erdwälle, mit denen Vater Kirill den Verlauf der Massengräber markiert hatte.
Jetzt, im März, zeichneten sich die Wälle nur als leichte Erhebungen im Schnee
ab. Sie durchzogen das Gelände ohne erkennbares System, wie lange, chaotische
Narben. Eine von ihnen lief direkt auf die Datschensiedlung zu, deren
verschneite Dächer unmittelbar hinter dem Zaun aufragten.
    Auf der Suche nach dem Eingang der Siedlung verlief ich mich zweimal
im Wald. Als ich ihn endlich fand, kam mir das Namensschild neben der Einfahrt
wie ein zynischer Fußtritt vor: Die Siedlung hieß Uroschaj – »Ernte«.
    In alttestamentarischer Stimmung lief ich zwischen den Holzhäusern
umher, ich wollte Steine werfen. Es war bloß niemand da. Die Datschensaison
hatte noch nicht begonnen, Schnee bedeckte die Gemüsegärten, die Siedlung war
verwaist. Ich wollte schon gehen, als sich neben mir plötzlich ein Schiebetor
öffnete. Ein alter Mann trat hinter dem Metallzaun hervor. Er humpelte leicht,
und sein graues Gesicht war voller Altersflecken.
    Ich grüßte ihn. Etwas überrascht nickte er in meine Richtung.
    »Ein schönes Haus haben Sie«, sagte ich.
    Der Mann sah mich an, sah seine Datscha an, sah wieder mich an. »Was
soll daran schön sein?«
    Erst jetzt sah ich mir das Haus genauer an. Es war tatsächlich keine
Schönheit – ein grau verputzter Anbau verdeckte die Holzfassade. »Ich komme aus
Deutschland«, improvisierte ich, »da gibt es solche Häuser nicht.«
    »Aus Deutschland … Und was machen Sie hier?«
    »Ich habe mir das Polygon angesehen.«
    Verständnislos starrte er mich an. »Sie kommen aus Deutschland
hierher, um sich einen Friedhof anzusehen?«
    »Es ist ein ungewöhnlicher Friedhof. Da wurden Menschen erschossen.«
    »Junger Mann«, unterbrach er mich. »Glauben Sie nicht alles, was man
Ihnen erzählt. Ich sage Ihnen das als jemand, der beruflich gewisse Einblicke
hatte, anders als viele, die heute ihre Lügen verbreiten.«
    »Lügen?«
    »Lügen. Propaganda. Auf dem Polygon sind ein paar Priester
gestorben, das nutzt die Kirche jetzt aus, um ihre Ideologie zu verbreiten.«
    »Waren es nicht sehr viele Priester?«
    »Gab es denn unter den Priestern keine Verbrecher? Damals herrschte
Krieg, junger Mann, Krieg zwischen der Sowjetunion und ihren Feinden. Einen
Krieg ohne Opfer gibt es nicht, als Deutscher sollten Sie das wissen. Ich hatte
mit Ihren Großvätern zu tun, ich weiß, wovon ich rede.«
    Eine Pause entstand. Unsere Bekanntschaft war keine fünf Minuten
alt, und schon steckten wir in einer Sackgasse.
    »Sie haben von Ihrem Beruf gesprochen«, setzte ich an. »Was haben
Sie gemacht?«
    Er lächelte. »Ich habe den Staat aufgebaut.«
    »Sie meinen, Sie haben für den Staat gearbeitet?«
    Er lachte trocken. »Damals haben alle für den Staat
gearbeitet, junger Mann. Gemeinsam haben wir ihn aufgebaut, unseren Staat.«
    Er ließ das Schiebetor ins Schloss fallen und wandte sich zum Gehen.
»Lügen«, murmelte er. Als er sich ein paar Meter entfernt hatte, drehte er sich
noch einmal zu mir um. »Sagen Sie das den Leuten in Deutschland! Meine
Generation schaltet den Fernseher nicht mehr ein, weil man uns nur noch Lügen
erzählt!«
     
    Es dämmerte, als ich den Bahnhof erreichte. Während ich auf die
Elektritschka zurück ins Stadtzentrum wartete, las ich die Aushänge am
Bahnsteig. Ich blieb an einem beleuchteten Glaskasten hängen: »Kategorien von
Bürgern mit Anspruch auf kostenlose und ermäßigte Beförderung in Vorortzügen«.
Ich las die Liste, las sie wieder, las sie staunend ein drittes Mal. Was da
unter einer flackernden Neonröhre an der Wand hing, war eine komprimierte
Geschichte der Sowjetunion.
     
    −  Helden
der Sowjetunion (kostenlos)
    −  Helden
der sozialistischen Arbeit (kostenlos)
    −  Teilnehmer
des Großen Vaterländischen Krieges (kostenlos)
    −  Familienmitglieder
verstorbener Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges (kostenlos)
    −  Ehemalige
minderjährige Insassen von Konzentrationslagern, Ghettos und anderen

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