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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Kaleda spürte, wie sich seine
Hände in den Hosentaschen zu Fäusten verkrampften.
    Er fuhr in jenem Sommer oft mit seinen Eltern nach Butowo. Der Vater
sang Trauerliturgien, gemeinsam beteten sie. Oft schlossen sich ihnen andere
Menschen an, die Angehörige verloren hatten. Orientierungslos irrten die
Menschen über das unmarkierte Gelände, kein Grabstein wies ihnen den Weg. Das
Polygon war ein Friedhof, aber es fehlte ihm alles, was einen Friedhof ausmacht
– alles, außer den Toten. Von den Toten aber war nichts zu sehen, und immer
noch gab es Menschen, die abstritten, dass hier Hinrichtungen stattgefunden
hatten. Unmittelbar neben dem Polygon lag eine Datschensiedlung. Die
Sommerhäuser gehörten dem KGB . Der Geheimdienst
hatte sie in den Fünfzigerjahren bauen lassen, als Erholungsort für verdiente
Mitarbeiter. Wenn Kaleda und seine Familie das Polygon besuchten, begegneten
ihnen mitunter Geheimdienstler, denen die gemurmelten Gebete hinter ihren
Sommergärten suspekt waren. Hört doch auf mit dem Unsinn, schimpften sie – eure
Kirche erzählt euch Märchen. Wer soll hier schon begraben liegen? Ein paar
Kriminelle, sonst niemand.
    Kaleda, der Geologe, begann zu graben. Am Anfang grub er illegal.
Zuständig für die Untersuchung des Polygons, das formal noch immer dem KGB gehörte, wäre die Staatsanwaltschaft gewesen. Die
aber war nicht scharf auf Scherereien mit dem Geheimdienst, und da sie in jenen
Jahren der Umwälzung genug um die Ohren hatte, überließ sie die Umwälzung der
Vergangenheit bereitwillig Kaleda. Nach einigem bürokratischen Hin und Her
übereignete man das komplette Gelände der Kirche, in deren offiziellem Auftrag
Kaleda nun die Toten ausgrub.
    Er fand lange Gräben voller Knochen. Es waren so viele, dass sie
unmöglich zuzuordnen waren. Bis heute weiß niemand genau, wie viele Menschen in
Butowo starben. Die Nachforschungen, die parallel zu Kaledas Ausgrabungen
angestellt wurden, ergaben nur Eckdaten. Umzäunt worden war das Gelände in den
frühen Dreißigerjahren. Spaziergänger und Anwohner hörten Schüsse hinter dem
Zaun, etwa zwanzig Jahre lang, sie verstummten erst nach Stalins Tod. Es gab
Jahre, in denen kaum geschossen wurde, und Tage, an denen das Feuer nicht
abriss. Ein mörderisches Crescendo hallte von August 1937 bis Oktober 1938
durch Butowo. Nur in dieser Periode, der Zeit des »Großen Terrors«,
dokumentierte der Geheimdienst sämtliche Hinrichtungen auf dem Gelände. In
knapp vierzehn Monaten wurden mehr als 20000 Menschen erschossen und
verscharrt, im Schnitt etwa fünfzig pro Tag. Der jüngste dieser
Konterrevolutionäre war vierzehn Jahre alt. Der älteste, ein achtzigjähriger
Erzbischof, war so krank, dass man ihn liegend erschießen musste, auf seiner
Bahre.
    Während Kaleda noch grub, entwickelten die Knochen ein Eigenleben.
Die Kirche erklärte einzelne der ermordeten Kleriker zu Märtyrern. Dreihundert
Menschen wurden im Lauf der Jahre heiliggesprochen, auch Kaledas Großvater
gehörte dazu. Im Gebirge der Gebeine, unauffindbar zwischen all den anderen
Knochen, lagen nun Märtyrerknochen, Reliquien, orthodoxe Heiligtümer. Kaleda
grub vorsichtiger.
    Andere Knochen offenbarten ihre Natur erst, als die
Geheimdienstakten allmählich genauere Schlüsse über die Erschießungen zuließen.
Gegen Ende des »Großen Terrors« hatte sich die paranoide Logik der Verhöre
zunehmend gegen Stalins eigene Schergen gekehrt – in heller Panik denunzierte
bald jeder jeden. Erschossen wurden nun Funktionäre, die eben noch die
Erschießung anderer Menschen angeordnet hatten, erschossen wurden ihre
Mitwisser und Helfershelfer, die Wärter der Gefängnisse und die Fahrer der
Hinrichtungstransporte, die Henker und die Totengräber. Unterschiedslos warf
man ihre Leichen in die Gräben des Polygons. Im Gebirge der Gebeine, begriff
Kaleda, lagen Mörderknochen neben Märtyrerknochen, untrennbar miteinander
vermischt. Er musste an die Predigt des Bischofs denken: Jeder hier hat sein
Kreuz getragen. Damals waren ihm die Worte unannehmbar vorgekommen. Jetzt war
er sich nicht mehr sicher.
    Als Kaleda jeden Kubikzentimeter des Polygons umgewälzt hatte,
schrieb er einen Untersuchungsbericht und bedeckte die Knochen wieder mit Erde.
Er schüttete lange Wälle auf, um die Lage der Massengräber zu markieren. Dann
ließ er sich zum Priester weihen. Er baute eine Kirche, eine kleine zunächst,
aus Holz, auf dem Polygon. Ein paar Jahre später wurde sie von der großen
Steinkirche

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