Mein russisches Abenteuer
verkauften ihr die Rebellen Schenjas Leiche. Ljubow
versetzte ihre Wohnung in Kurilowo, um ihren Sohn beerdigen zu können. Die
Rebellen ließen sie zweimal bezahlen, erst für den Körper, dann für den Kopf.
In einem Zinksarg brachte Ljubow ihren zerstückelten Sohn nach Hause. Als sie
ankam, hatte in Kurilowo der Winter begonnen. Schnee fiel, als man Schenja
beerdigte.
Eine Woche später begrub Ljubow ihren geschiedenen Mann, Schenjas
Vater. Er hatte den Tod seines Sohnes nicht verkraftet. Noch etwas später
begrub sie ihren zweiten Sohn, Schenjas Bruder. Er starb bei einem Autounfall.
Allein saß Ljubow nach den Beerdigungen in ihrer Datscha und dachte
an Schenja, diesen stillen, ernsten Jungen, der so plötzlich aus ihrem Leben
verschwunden war. Sie dachte an das Kreuz, das er eines Tages mit nach Hause
gebracht hatte, elf Jahre war er da alt, die Großmutter hatte ihn in den Ferien
mit in die Kirche genommen. Schenja, was soll das, hatte Ljubow gesagt, nimm
das Kreuz ab, die anderen Kinder werden dich auslachen. Kaum jemand trug damals
ein Kreuz um den Hals, erst recht nicht in einem Kaff wie Kurilowo. Aber
Schenja hatte das Kreuz nie mehr abgenommen, zu Hause nicht und nicht in der
Schule, nicht beim Spielen, nicht beim Schwimmen, nicht beim Sterben.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Geschichte von Jewgenij Rodionow
herumsprach. Ein paar Jahre nach der Beerdigung tauchten die ersten
Journalisten in Kurilowo auf, sie schrieben Artikel, in denen das Wort
»Märtyrer« fiel. Nach den Journalisten kamen die Armeeangehörigen. An Schenjas
Todestagen umringten Offiziere sein Grab und hielten patriotische Reden.
Einfache Soldaten schickten Ljubow Briefe, sie beichteten ihr Momente der
Angst, in denen sie an Jewgenij Rodionow dachten, den Rekruten, der furchtlos
in den Tod gegangen war. Dann tauchten die ersten Ikonen auf. Ljubow brauchte
eine Weile, um sich an den Anblick ihres Sohnes mit Heiligenschein zu gewöhnen.
Eines Tages kam ein Anruf aus Moskau. Ein Geistlicher meldete sich,
er stellte sich als Sekretär einer Kirchenkommission vor, zuständig für
Kanonisierungsfragen. Der Kommission, sagte er, lägen diverse Anträge auf
Heiligsprechung ihres Sohnes vor. Ob Ljubow vielleicht in Moskau vorbeikommen
könne?
Sie setzte sich in die Elektritschka und fuhr in die Hauptstadt. Ein
Gremium bärtiger Männer empfing sie. Zwei Stunden lang erzählte Ljubow ihre
Geschichte. Man stellte ihr Fragen: War Ihr Sohn gläubig? Wie äußerte sich das?
Betete er? Ging er in die Kirche? Regelmäßig? Wie oft gehen Sie selbst in die
Kirche? Haben Sie Ihren Sohn christlich erzogen? Was können Sie uns über sein
Martyrium erzählen? Welche Zeugen gibt es?
Sie sind alle tot, sagte Ljubow. Seine Mörder, seine Mitgefangenen,
alle sind tot.
Die Kirche lehnte die Heiligsprechung ab. Das Martyrium sei nicht
ausreichend bezeugt, lautete die offizielle Begründung. Die Armee protestierte.
Sie protestierte so heftig, dass sich die Kirche gezwungen sah, ihre wahren
Beweggründe offenzulegen: Noch nie, erklärte ein Mitglied der
Kanonisierungskommission, habe die orthodoxe Kirche Kriegstote
heiliggesprochen, und man sehe keinen Anlass, von diesem Prinzip abzuweichen.
Es sei nicht Aufgabe der Kirche, den Kampfgeist der Armee zu stärken.
»Was soll ich mit einem Heiligen?«, fragte Ljubow. »Ich brauche
einen Sohn, keinen Heiligen.«
Es tat weh, ihr zuzuhören. Es tat weh, gerade weil sie sich so betont
gleichgültig gab, wenn sie von der Ablehnung der Kirche sprach. »Ich brauche
keine Ikonen, ich brauche einen Sohn.« Die Sätze klangen mit jeder Wiederholung
verzweifelter. Ihre Stimme verschwamm, mitunter brach sie fast. Die Kleriker
hatten ihr nicht geglaubt, sie spürte es, sie konnte es nicht verwinden.
Zweimal hatte man ihr das Herz gebrochen, einmal in Tschetschenien und einmal
in Moskau. Sie stritt es ab, aber sie brauchte diesen Heiligen, dessen Ikonen
ihr Wohnzimmer füllten: Schenja, der Gotteskrieger in Uniform, ein Märtyrer mit
Maschinengewehr, Jewgenij von Tschetschenien.
»Ich bin nicht wie Schenja«, sagte Ljubow. »Mein Glaube ist nicht
sehr stark. Wenn ich vor den Ikonen stehe, frage ich Gott: Warum hast du mir
meinen Sohn weggenommen? Eine echte Gläubige stellt solche Fragen nicht.«
Ein gekreuzigter Jesus hing zwischen den Märtyrerbildern. Ljubow
richtete einen anklagenden Zeigefinger auf ihn. »Christus hat drei Tage lang
gelitten. Drei Tage! Weißt du, wie lange Schenja gefoltert wurde?« Sie sah
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