Mein russisches Abenteuer
hatten sie vor der Gottesmutter kapituliert.
Ich begriff es nicht. Warum hielt er Ikonen für Waffen, wozu
brauchte er sie? Als ich Igor fragte, sah er mich verblüfft an. »Weißt du es
denn nicht? Der Krieg kann jeden Moment beginnen. Wir müssen vorbereitet sein.«
Ich fand nie heraus, von welchem Krieg er sprach. War es Armageddon,
die Schlacht der letzten Tage? Er raunte von dunklen Bedrohungen, manchmal
tauchten konkrete Feinde auf, die Chinesen, der Islam, Amerika. Dann wieder
sprach er von den Christenverfolgungen der Sowjetzeit, vom Terror gegen die
Ikonenmaler. Aus seinen Andeutungen reimte ich mir zusammen, dass er sein
Handwerk in der Perestroika erlernt hatte, zu einer Zeit, als Ikonenmalerei
formal noch strafbar war. »Wie Banditen haben wir gelebt«, sagte er. Seit zwei
Jahrzehnten arbeitete er nun ungestört, aber er traute dem Frieden nicht, er
lebte in ständiger Erwartung eines Rückfalls in die gottlose Ära. Ich fragte
mich, ob das der uneingestandene Grund war, warum es ihn zu unkanonischen
Motiven zog, zu Heiligen, die die Kirche nicht anerkannte. Ein fortgesetzter
Geist des Widerstands schien ihn anzutreiben, gegen wen auch immer. Er kam mir
vor wie ein verlorener Partisan, der vergessen hat, wer sein Feind ist.
Trotzdem griff ich mit fast kindlicher Dankbarkeit nach seiner Hand,
als wir uns verabschiedeten. Ich musste an Komarowskij denken, Igors
erschossenen Vorgänger. Die Spur der Ikonen war nicht abgerissen. So seltsam und
wirr mir ihre heutigen Verästelungen auch vorkommen mochten, die Spur führte
bis in die Gegenwart.
Auf dem Weg zur Haustür blieb mein Blick an einer Ikone hängen, die
mir vorher nicht aufgefallen war. Die blau-weißen Streifen eines
Armeeunterhemds sprangen mir ins Auge. Ich sah genauer hin. Der Heilige,
offenbar ein junger Mann, trug die Uniform eines russischen Rekruten.
»Wer ist das?«
»Der heilige Krieger Jewgenij.«
»Warum trägt er eine Uniform?«
»Weil er eine Uniform trug, als die Tschetschenen ihm den Kopf
abschnitten.«
Jewgenij von Tschetschenien
Der Frühling kam plötzlich und unerwartet. Ein Tag im frühen April
begann mit riesigen Schneeflocken, die mittags kleiner und abends winzig
wurden, bevor sie in Regen übergingen. Zwei Tage und Nächte lang rann Wasser in
biblischen Mengen von allen Dächern und Bordsteinen, begleitet vom Krachen
explodierender Eiszapfen. Als am dritten Morgen die Sonne aufging, war von den
Schneebergen an den Straßenrändern nichts mehr übrig. Über Nacht verschwanden
die Pelzmäntel aus den U-Bahn-Waggons, und ein paar Tage später, in der
Elektritschka, sah ich zwischen lauter Gummistiefeln den ersten rotlackierten
Mädchenfuß in Sandalen.
Kurilowo, das Ziel meiner Reise, war mehr Großdorf als Kleinstadt.
In den Sechzigerjahren hatten sich ein paar Plattenbauten zwischen die
Holzhäuser gedrängelt, seitdem schien in der Siedlung nicht viel passiert zu
sein. Der Friedhof lag ein Stück außerhalb. Lange stolperte ich über das halb
verwilderte Gelände, auf der Suche nach Jewgenij Rodionows Grab. Als ich es
fand, erkannte ich den getöteten Rekruten sofort wieder – die Ikone in Igors
Haus musste nach dem gleichen Foto gemalt worden sein wie das Porträt auf dem
Grabstein.
Jewgenij
Rodionow: 23. Mai 1977 – 23. Mai 1996.
Zwischen den Grabsteinen hockte ein junger Mann mit einem feuerroten
Vollbart. Er strich einen Zaun. Als ich näher kam, sah er mich misstrauisch an.
»Sind Sie der Priester?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er langsam. »Ich bin nicht der Priester. Der Priester
wurde erschossen.«
Sascha nahm mich im Auto mit zurück in die Siedlung. Unterwegs
erzählte er mir die Geschichte des Priesters.
»Eine Woche ist es her. Vater Alexander war auf dem Weg nach Hause,
er kam aus der Kirche. Vor einem Wohnblock sah er ein paar betrunkene Jungs stehen.
Er ging hin und sprach sie an – er war so ein Mensch, er konnte nicht einfach
an den Leuten vorbeigehen, er wollte immer alle bekehren. Einer der Typen zog
eine Pistole aus der Jacke und schoss ihm ins Herz. Einfach so. Er war sofort
tot. Ein paar Stunden später hat die Polizei die Typen geschnappt, sie waren
völlig besoffen. Jetzt steht die Kirche leer. Ich kümmere mich um den Friedhof,
aber ich kann keine Messen singen. Keine Ahnung, ob wir einen neuen Priester
bekommen – wer will schon in eine Stadt, wo solche Sachen passieren?«
Ich fragte ihn nach Jewgenij, dem getöteten Soldaten. Sascha nickte.
»Du meinst Schenja. Ich kannte ihn
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