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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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der Großfürst, der Russland zum
Christentum bekehrt hat. Sie hatten sich slawische Decknamen zugelegt, damals,
in der Zeit der Perestroika, als sich Russland an seiner Geschichte verschluckt
und hustend ihre Bruchstücke ausgespuckt hatte. Lauter vergessene Götter waren
damals wieder aufgetaucht. Einer von ihnen, der Christengott, hatte das halbe
Land erobert, wie er es tausend Jahre zuvor schon einmal getan hatte. Mit ihm
aber kehrten andere Götter zurück, die hier schon länger heimisch waren.
    »Wozu brauchen wir einen ausländischen Gott?«, fragte der Mann, der
sich Swjatoslaw nannte, während er Pfannkuchen auf meinen Teller türmte. Jetzt,
wo Perun gefüttert war, aßen seine Jünger. »Wir haben unsere eigenen Götter.«
    Sie waren ein Haufen bärtiger Studenten gewesen damals,
Naturwissenschaftler die meisten. Den Christengott lehnten sie ab, er kam ihnen
fremd vor und ausgedacht, wie eine abstrakte Ideologie, kaum lebensnäher als
der Kommunismus, von dem sich Russland gerade befreite. Näher war ihnen der
Gedanke einer beseelten Natur, einer Götterwelt, die in den Elementen lebt: in
der russischen Erde, in den Birken, den Flüssen, im Wind, der durch die
Kornähren streicht – alles ist Gott, Gott ist in allem.
    Mitte der Achtzigerjahre, als es möglich wurde, Privatgrundstücke zu
kaufen, hatten sie beschlossen, eine Siedlung zu gründen. Sie wollten leben,
wie ihre Vorfahren gelebt hatten, im Einklang mit den Göttern der Natur. Lange
hatten sie das Moskauer Umland nach einer geeigneten Stelle abgesucht, bis sie
endlich den halb verfallenen Ort Popowka entdeckten, der schon in Russlands
grauer Vorzeit eine Kultstätte der Slawen gewesen war …
    »Moment«, hakte ich nach. »Woher wisst ihr das?«
    Sie lächelten. »Man spürt es einfach.«
    Offenbar sah ich skeptisch aus. »Wir haben hier alte Kultgegenstände
ausgegraben«, sagte der, der sich Broneslaw nannte. »Sieh sie dir an, sie
liegen hinter dir, in der Zimmerecke.«
    Ich drehte mich um, aber hinter mir lag nur ein Haufen ausrangiertes
Werkzeug. »Wo?«, fragte ich.
    Broneslaw deutete auf den Haufen. »Direkt vor deinen Augen.«
    Ich sah genauer hin. Ein brüchiger Mühlstein lehnte an der Wand.
Neben ihm lag eine verbogene Mistgabel.
    »Das ist keine Mistgabel«, sagte Broneslaw. »Es ist ein slawischer
Dreizack. Und der Mühlstein ist ein Altar.«
    Ungläubig starrte ich ihn an. Weder der Mühlstein noch die Mistgabel
waren annähernd alt genug, um die tausendjährige Lücke zu schließen, die
zwischen der Christianisierung und der Gegenwart klaffte.
    »Woher wisst ihr, dass es nicht einfach nur Arbeitsgeräte sind?«
    Sie lächelten. »Man spürt es.«
    Während der Nachmittag verging, stellte ich noch ein paarmal die
Woher-Frage, aber da die Antwort immer dieselbe war, lernte ich, mir auf die
Zunge zu beißen. Ich musste an meine Moskauer Freunde denken. Sie hatten recht:
Hinter dem Autobahnring herrschten andere Naturgesetze.
    Irgendwann saß ich einfach nur noch da und hörte zu, während draußen
vor den Fenstern das Dorf in bleierner Dunkelheit versank. Es war längst zu
spät, um zurück nach Moskau zu kommen, und ich war dankbar, als die Priester
mir anboten, die Nacht in Popowka zu verbringen.
    »Trinkst du russischen Wodka?«, fragten sie.
    Ich seufzte. »Na gut. Aber nicht so viel, ich muss morgen den ersten
Zug …«
    Kopfschüttelnd unterbrachen sie mich. »Russischen Wodka gibt es
nicht. Wodka ist erst im 15. Jahrhundert nach Russland gekommen, aus dem
Westen. Unsere Vorfahren haben keinen Wodka getrunken. Und wir trinken ihn auch
nicht.«
    Verblüfft sah ich in die Runde. Es war das erste Mal, dass ich einen
Russen sagen hörte, Wodka sei ein unpatriotisches Getränk.
    »Und«, fragte ich zögernd, »wie verbringt ihr dann eure Abende?«
     
    Mit Taschenlampen machten wir uns auf den Weg. Am anderen
Ende des Dorfs erreichten wir eine kleine Holzhütte. Dicker Rauch drang aus dem
Kaminrohr. Wir betraten einen Vorraum.
    »Zieh dich aus.«
    Als wir alle splitternackt nebeneinander standen, öffnete Stanislaw
die Tür der Banja. Eine unsichtbare Feuerzunge leckte durch den Vorraum und
versengte mir die Atemwege. Ich stöhnte, aber niemand hörte es, sie schoben
mich einfach durch die Tür. Der Raum war unerträglich heiß, und er wurde noch
heißer, als Broneslaw die erste Kelle Birkenwasser auf den Ofen goss. Zornig
zischend verkochte das Wasser auf den Metallplatten, sofort schoss mir der
beißende Dampf in die Nase. Es tat

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