Mein russisches Abenteuer
mir
in die Augen und ließ die ketzerische Frage im Raum schweben. »Dreieinhalb
Monate. Jeden Tag haben sie ihn gequält. Warum hat Gott ihn nicht früher
erlöst?«
Ljubow, der Vorname, bedeutet: Liebe.
Wenn sie an Tschetschenien dachte, spürte sie keinen Hass. Selbst
der Hass, den ich nach dem Bombenterror in der Metro meinen Moskauer Bekannten
angemerkt hatte, war ihr fremd. Sie kannte sie, die tschetschenischen Kämpfer,
die Geiseln zu Tode foltern, aber sie hatte auch tschetschenische Mütter
kennengelernt, die ihr, einer russischen Mutter, halfen, weil sie genau
wussten, wie es ist, einen ermordeten Sohn zu suchen. »Wir schicken unsere
Jungen in den Tod, sie schicken ihre Jungen in den Tod. Wem nützt es? Ein paar
Männern in grauen Anzügen. Unsere Kinder sterben gemeinsam, für Dinge, die sie
nichts angehen, die sie nicht einmal verstehen.«
Ljubow begriff, dass man ihren Sohn in den Tod geschickt hatte. Aber
sie begriff nicht, dass man ihn nun ein zweites Mal in den Krieg schicken
wollte. Erst hatten ihn die Tschetschenen entführt, jetzt war er Russlands
Geisel. Als Soldat war er nicht mehr zu gebrauchen, als Märtyrer umso mehr. Die
Armee wollte ihn in den Dienstrang eines Heiligen versetzen, noch im Tod sollte
er seinem Land dienen. Die Kirche hatte der Versuchung widerstanden, aus
Schenja einen Heiligen zu machen. Ljubow hatte keine Kraft mehr, um
Versuchungen zu widerstehen.
Müde blätterte sie durch einen Stapel Post. »All diese Briefe«,
seufzte sie. »Warum schicken die Leute mir diese Briefe?« Sie griff in einen
der Umschläge und zog eine CD heraus. »Hier, von
einem Soldaten, er schickt mir Lieder, die er geschrieben hat, über Schenja.«
Sie schaltete ein kleines Küchenradio ein und legte die CD auf. Gezupfte Gitarrenakkorde. Eine Männerstimme, brüchig, voller Pathos.
In jeder russischen Kirche
Sollen Messen erklingen,
Ein neuer Fürsprecher ist erschienen
In den Himmeln der Rus.
Soldat Rodionow,
Wenn du im Himmel ankommst,
Bitte Gott um Vergebung
Für uns Sünder.
Auf Ikonen erscheint nun
Ein Heiliger in Tarnfarben,
Und im himmlischen Heer
Dient ein Grenzschutzsoldat.
Wer von uns kleinen Seelen
Wagt’s, dem Feind zu entgegnen:
Mein Kreuz nimmst du nur,
Wenn mein Kopf mit ihm fällt.
Die Holzgötter kehren zurück
»Gibt es überhaupt Leben hinter dem Autobahnring?«
Wir saßen in Wanjas Küche, sieben Moskauer und ein Deutscher. Ich
erzählte von meinen Ausflügen in die Provinz und erntete ironisches
Unverständnis. Manche der versammelten Hauptstädter hatten noch nie einen Fuß
ins Moskauer Umland gesetzt. Sie kannten London, Rio, Goa, aber nicht die
Dörfer hinter dem Autobahnring.
»Da gibt es nicht mal Internet, oder?«
»Internet? Da gibt es nicht mal Strom.«
»Aber irgendjemand muss da leben. Wenn man mit dem Flugzeug
drüberfliegt, sieht man Häuser.«
»Die stehen da nur fürs Fernsehen. Damit sie in den Nachrichten so
tun können, als sei die Provinz bevölkert. In Wirklichkeit lebt da seit
Jahrhunderten niemand mehr.«
»Da herrschen völlig andere Naturgesetze. Die Uhren laufen
rückwärts, und der Regen fällt seitwärts.«
»Es soll da Menschen geben, die nicht wissen, dass Lenin tot ist.«
»Es gibt da ganze Dörfer, die immer noch an die alten Slawengötter
glauben. Echte Heiden.«
»Jetzt übertreibst du.«
»Nein! Das haben sie im Fernsehen gezeigt. Ein ganzes Dorf, mitten
im Nichts, wo die Leute dir vor die Füße spucken, wenn du dich bekreuzigst.«
»Wo soll das denn sein?«
»Irgendwo westlich von Moskau. Popowka heißt das Dorf.«
Drei Stunden westlich von Moskau hielt die Elektritschka
an einer kleinen Provinzstation. Gegenüber vom Bahnhof stand ein Mann neben
einem alten Schiguli, auf dem Autodach klebten die Überreste einer Taxileuchte.
Der Fahrer schob die Mütze in den Nacken und kratzte sich am Kopf. »Popowka? Wo
die Altgläubigen leben?«
»Die Heiden.«
Er nickte gleichgültig. »Was auch immer. Zweihundert Rubel, aber das
letzte Stück musst du laufen. Da kommt man mit dem Auto nicht hin.«
Eine halbe Stunde später bremste der Wagen abrupt. Wir stiegen aus.
Ohne erkennbares Ziel durchlief die Straße eine hügelige Graslandschaft, die
völlig ausgestorben wirkte.
»Siehst du den Waldrand da hinten?«
Ich folgte dem ausgestreckten Zeigefinger des Fahrers und nickte.
»Siehst du die Häuser am Waldrand?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist Popowka.« Er ließ den Zeigefinger sinken. Ich sah
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