Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
nur
Bäume. Sehr weit entfernte Bäume. Der Fahrer grinste.
    Zwei Stunden lang lief ich durch wintermattes Steppengras, gelb an
den Spitzen, schwarz an den Wurzeln, wie die Haare einer gefärbten Blondine.
Verkrustete Schneereste lagen im Schatten vereinzelter Birkengruppen, auf den
Wiesen standen riesige Schmelzwasserpfützen. Kröten hockten an den Rändern der
Tümpel, ihre glasigen Blicke folgten meinen Schritten.
    Auf halber Strecke durchquerte ich ein kleines Dorf, das aussah, als
habe eine Seuche alle Bewohner hinweggerafft. Halb verfallene Holzhäuser
säumten den Weg, in den Gärten lag rostiger Schrott. Ein Hund schlug an, aber
er schien irgendwo hinter den Häusern angekettet zu sein, ich konnte ihn nicht
sehen. Als sein Bellen verstummte, hörte ich nur noch das Schmatzen meiner
Stiefel im Matsch. Am Dorfausgang lief ich an einer Reihe halbwegs intakter
Häuser vorbei, und kurz bildete ich mir ein, hinter einer Gardine eine Bewegung
wahrgenommen zu haben. Als ich an die Haustür klopfte, regte sich nichts. Ich
lief weiter. Moskau kam mir plötzlich sehr weit entfernt vor.
    Nach zwei Stunden, kurz bevor ich den Waldrand erreichte, tauchte
hinter einem Hügel eine Siedlung auf, zwanzig, vielleicht dreißig Häuser. Sie
konnten nicht alt sein, ihre Wände waren aus frischem, noch nicht nachgedunkeltem
Holz. Am Rand der Siedlung mähte ein Mann eine Wiese. Das Ritsch-Ratsch seiner
Sense durchschnitt die Stille, aus der ich kam. Als ich mich näherte, rammte
der Mann das Sensenblatt in den Boden, verschränkte die Arme über dem Holzgriff
und sah mich abwartend an.
    »Ist das hier Popowka?«
    Der Sensenmann nickte stumm.
    »Wo die Heiden leben?«
    »Die Slawen«, korrigierte er. Prüfend musterte er mich von Kopf bis
Fuß. »Du bist kein Slawe.«
    Es klang wie ein Todesurteil. Abrupt riss er die Sense aus dem
Boden. Instinktiv suchte ich nach einem Fluchtweg, aber anstatt auf mich
loszugehen, wuchtete der Mann die Sense auf seine breite Slawenschulter und
bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihm ins Dorf zu folgen.
    »Sieh dir an, wie echte Slawen leben«, sagte er. »Sieh dir an, wie
sich unser Geschlecht erneuert.«
     
    Ich platzte mitten in das samstägliche Opferritual. Zwei Dutzend Menschen
hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt, die meisten trugen Leinenhemden und
bestickte Stoffgürtel. Über der Menge, die Häuser überragend, erhob sich der
Holzleib eines vierköpfigen Gottes. Sein Körper war mit goldenen Sonnenrädern
beschlagen, die in meinen deutschen Augen wie vielarmige Hakenkreuze aussahen.
Unwillkürlich verglich ich sie mit der tätowierten Swastika auf Saschas Rücken
– sie rollten in die andere, die deutsche Richtung.
    Singend zogen fünf bärtige Männer über den Platz, eingehüllt in
Wolfsfelle. Es mussten heidnische Priester sein, sie trugen Opfergaben vor sich
her: einen Krug Milch, einen Laib Brot, Füllhörner mit rätselhaften
Flüssigkeiten. Sie sangen in einer slawischen Fantasiesprache, von der ich nur
einzelne Fetzen verstand: »… alles ist Gott, Gott ist in allem … Ruhm den
Slawen … wir waren, wir sind, wir werden sein …«
    In langsamer Prozession näherten sich die Männer dem großen
Holzgott. Immer wieder machten sie Halt, um kleinere Götzenstatuen mit
Opfergaben zu füttern: Milch troff aus den Holzmäulern grinsender Wölfe. Der
Gesang wurde lauter, je näher die Priester der Platzmitte kamen. Wiederholt
hörte ich jetzt einen Namen, den ich kannte: »Perun! … Perun! …« Er also war
es, um dessen Statue die Zeremonie kreiste: Perun, das Oberhaupt der slawischen
Götterwelt. Am Fuß seines Holzleibs schwelte ein Feuer, in dem die letzten
Opfergaben landeten.
    Als alles vorbei war, lag der Geruch von verbranntem Getreide in der
Luft. Rauch wehte über den Platz, während sich die Zuschauer im Dorf
verteilten. Der Sensenmann tauchte neben mir auf, er schob mich in die
Platzmitte und stellte mich den Priestern vor. Aus der Nähe sahen sie
überraschend jung aus, keiner war über fünfzig. Ich hatte sie für älter
gehalten – die Bärte hatten mich getäuscht. Einer nach dem anderen schüttelte
mir die Hand.
    »Stanislaw.«
    »Bratislaw.«
    »Swjatoslaw.«
    »Broneslaw.«
    »Wladislaw.«
    Natürlich waren das nicht ihre echten Namen. Eigentlich hießen sie,
wie ich beim Mittagessen in einem der Holzhäuser erfuhr, einfach nur Iwan oder
Pjotr oder Wladimir – aber welcher Heide will schon heißen wie ein Evangelist
oder ein Apostel, geschweige denn wie

Weitere Kostenlose Bücher