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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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weh. Und es tat gut.
    Nach den ersten paar Runden, unterbrochen von Eiswasserbädern im
Vorraum, begriff ich, warum die Slawen keinen Wodka brauchten. Die Banja hatte
die gleiche Wirkung, ich fühlte mich betrunken, ohne es zu sein. Als ich den Gedanken
laut aussprach, trat ich eine Lawine völkischer Begeisterung los – die Slawen
johlten. Sie priesen die Banja als russischstes aller Rauschmittel und
verfluchten den Wodka, dieses ausländische Gift, mit dem feindliche Völker ihr
Land überschwemmt hatten. Dann fand ihr Zorn andere Ziele. Sie erklärten allen
fremdländischen Importen den Krieg, die im Lauf der Jahrhunderte ihr Land
erobert und entstellt hatten. Die Balalaika? Eine usbekische Laute. Die
Matroschka? Ein Spielzeug aus Japan. Christus? Der Sohn einer Jüdin, ein Gott
der Griechen und Römer, aber nicht der Slawen. So ging es weiter – Stück um
Stück warf Russland seine geborgten Kleider ab, bis es hüllenlos und
unverfälscht vor mir lag, pur, aber geschrumpft auf die Größe eines einzigen,
winzigen Dorfs.
    Ich weiß nicht mehr genau, wann ich begann, mich unwohl zu fühlen.
Vielleicht, als ich mir die Tätowierungen meiner Mitbader genauer ansah, was
ich lange vermieden hatte, weil wir nackt waren. Bläuliche Sonnenräder rollten
in alle Richtungen, flankiert von Runen, die nicht kyrillisch aussahen, sondern
gespenstisch germanisch. Vielleicht begann mein Unwohlsein auch, als in ihren
Tiraden immer öfter Wörter wie Blut und Boden auftauchten, als nicht mehr von
Völkern die Rede war, sondern von Rassen, von Erbfeinden, von Herrschern und
Beherrschten. Matt formulierte ich Einwände, aber es war zu heiß, und sie waren
zu viele, und ich war ihr Gast.
    Irgendwann übermannte auch sie die Hitze. Ihr Redefluss wurde
ziellos und schleppend, bevor er sich in Gesang verlor. Erleichtert lag ich auf
meiner Bank, froh, nichts mehr verstehen zu müssen. Wieder sangen sie in ihrer
slawischen Fantasiesprache, wie beim Opferritual. Fasziniert lauschte ich den
erfundenen Lauten und fragte mich, ob Völker je etwas anderes gewesen waren als
Gemeinschaften talentierter Selbstbetrüger.
    Sie aber versicherten mir, als ich nachfragte, dass ihre Sprache
authentisch war, genau wie ihre Rituale.
    »Wir haben das alles studiert. Wir haben Menschen gefunden, die die
slawischen Traditionen seit Jahrhunderten bewahren. Es gibt sie noch, sie
verstecken sich nur. Es gibt ganze Dörfer, die nie zum Christentum konvertiert
sind.« Der Gedanke war verführerisch: einsame heidnische Dörfer, tief in den
Wäldern, vergessen von der Welt, ähnlich wie Agafja Lykowas Einsiedelei in der
Taiga. Aber es war undenkbar. Siebzig Jahre sowjetischer Herrschaft hatten
ausgereicht, um die orthodoxe Kirche nahezu zu vernichten; drei Jahrhunderte
orthodoxer Verfolgung hatten die Altgläubigen zu einer isolierten Minderheit
gemacht, deren entlegenste Verstecke am Ende doch entdeckt worden waren. Die
Christianisierung aber lag nicht siebzig Jahre zurück und nicht dreihundert,
sondern ein volles Jahrtausend. Es konnte nicht wahr sein.
    »Wo sind diese Dörfer?«, fragte ich.
    Verschwörerische Blicke. »Das dürfen wir niemandem erzählen. Wir
haben versprochen, es nicht zu verraten.«
    Ich nickte stumm.
    Obwohl ich wusste, dass es Unsinn war, konnte ich lange nicht
aufhören, mir die vergessenen Heidendörfer auszumalen. Ich sah sie vor mir,
während wir uns gegenseitig mit Birkenzweigen auspeitschten, ich sah sie vor
mir, als wir zurück durch das dunkle Dorf stolperten, und ich sah sie vor mir,
als ich langsam in den Schlaf driftete, umringt von schnarchenden Heiden.
     
    Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um den Zug nach
Moskau zu erwischen. Aber die Slawen ließen mich nicht gehen.
    »Du musst noch durch die Ringe laufen.«
    Sie führten mich auf einen freien Platz am Rand der Siedlung. Etwa
dreißig Holzpfosten ragten aus der Erde, angeordnet in vier Ringen, die einen
gemeinsamen Mittelpunkt umschlossen. Im Zentrum stand ein weiterer, etwas
niedrigerer Pfosten, auf dem eine Glaskugel lag, so groß wie ein Fußball.
    »Hast du von Arkaim gehört?«, fragten sie.
    Ich nickte. Vor ein paar Jahren hatte ich den Namen in einer Zeitung
gelesen: Arkaim, die rätselhafte Ruinenstadt in der südrussischen Steppe. Wann
und von wem sie erbaut worden war, war umstritten, niemand wusste es genau.
Aber meine heidnischen Freunde hatten ihre Theorien.
    »Es ist eine alte slawische Kultstätte, gegründet von unseren
Vorfahren. Wir haben sie

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