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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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es kein gewöhnliches Schiff sein konnte. Sein spitzer,
seegängiger Kiel unterschied es deutlich von den plumpen Flussfähren, die der
Junge kannte.
    »Was für ein Boot ist das?«, fragte Peter seinen holländischen
Hauslehrer Franz Timmermann.
    »Ein englisches Boot.«
    »Wozu benutzt man es? Ist es besser als unsere russischen Boote?«
    »Wenn man einen neuen Mast anbringen würde und neue Segel, könnte es
nicht nur mit dem Wind fahren, sondern auch gegen den Wind.«
    »Gegen den Wind? Das ist möglich?«
    Dem Jungen ging das Boot nicht mehr aus dem Kopf. Er ließ es aus dem
Schuppen holen und herrichten. Auf der Jausa, einem Seitenarm der Moskwa, wurde
es zu Wasser gelassen, und bald sah man Peter durch die Moskauer Vorstadt
kreuzen. Es muss ein verstörender Anblick für die Hauptstädter gewesen sein,
dieses fremdartige Miniaturboot mit seinem riesenhaften Steuermann, der schon
als Halbwüchsiger seine Altersgenossen überragte und später, als Mann, mehr als
zwei Meter messen sollte. Von Anfang an war Russland zu eng für Peter.
    Er war siebzehn, als er den Zarenthron bestieg. Das Land, über das
Peter I. nun herrschte, hatte das Trauma der Kirchenspaltung kaum hinter sich,
als der Kampf um Russlands Zukunft erst richtig begann. Noch immer war das Land
weitgehend abgeschnitten von seinen westlichen Nachbarn, deren Religion und
Sitten in Russland so misstrauisch beäugt wurden wie ihre technischen
Neuerungen. Peter wiederum wusste, wie rückständig Russland in den Augen der
Ausländer wirkte. Der minderjährige Zar war, während seine Halbschwester Sophia
stellvertretend das Land regierte, auf einem Gut außerhalb der Stadtmauern
aufgewachsen, in der Nähe der »deutschen Vorstadt«, einem Ghetto für Kaufleute,
Handwerker und Wissenschaftler aus dem Westen. Die Ausländer, die hier lebten,
waren nach Russland gerufen worden, weil man ihre technischen Kenntnisse
brauchte, gleichzeitig wurden sie der Stadt ferngehalten wie eine ansteckende
Krankheit. Ironischerweise infizierte sich in dieser abgeschirmten
Quarantänezone ausgerechnet Russlands zukünftiger Herrscher mit dem Virus des
Westens. Peter liebte das Ausländerviertel, hinter dessen Mauern er sich schon
als Kind von deutschen Ingenieuren und französischen Militärexperten in die
Geheimnisse ihrer Zunft einweihen ließ.
    Das prägendste Erlebnis war die Segelfahrt auf der Jausa.
Holländische Schiffsbauer brachten Peter bei, wie man ein englisches Boot gegen
den Wind steuert. Die zwei kindlichen Leidenschaften, die den Zaren von diesem
Moment an begleiteten, übersetzte er nach seiner Thronbesteigung in ein
politisches Programm: Russland musste lernen, den Westen zu lieben – und
Russland musste lernen, den Wind zu lieben.
    Um die neue Marschrichtung vorzugeben, reiste Peter selbst Richtung
Westen. Er tat, was kein russischer Herrscher vor ihm getan hatte: Er
überschritt die Grenze seines Reichs, nicht an der Spitze eines Heers, sondern
zu Friedenszeiten, aus freiem Willen – und inkognito. Unter dem Decknamen Pjotr
Michajlow heuerte er im Hafen von Amsterdam als einfacher Zimmermann an. Als
seine wahre Identität aufflog, bestand er darauf, weiter als Arbeiter behandelt
zu werden, und bereitwillig spielte bald halb Europa seine Scharade mit. »Pjotr
Michajlow« reiste von Kurland über Preußen und Holland bis nach England, er
arbeitete in Werften, Sägemühlen, Gießereien, Schmieden, besuchte Museen,
botanische Gärten, Bibliotheken, Laboratorien, lernte von Architekten,
Ingenieuren, Bildhauern, Buchdruckern, Chirurgen und Zahnärzten. Viele dieser
europäischen Spezialisten rekrutierte Peter vom Fleck weg als Berater. Er
sandte sie mit Wagenladungen voller technischer Instrumente voraus nach
Russland, während er selbst weiterreiste und unermüdlich die gleichen Fragen
stellte: Was ist das? Wie funktioniert das? Wie baut man das?
    Als der Zar anderthalb Jahre später heimkehrte, segelte er Russland
gegen den Wind. Er begann da, wo es seinen Landsleuten am meisten wehtat: bei
ihren Bärten. Noch am Abend seiner Rückkehr gab Peter ein Willkommensbankett. Mit
einem Schermesser lief er von Stuhl zu Stuhl und rasierte den höchsten
Würdenträgern seines Reichs eigenhändig die Bärte ab. Blut tropfte von
entgeisterten Gesichtern. Der Bart war heilig – er machte den Mann zum Ebenbild
Gottes, und wer ihn beschnitt, legte nach orthodoxem Verständnis Hand an Gottes
Schöpfung. Der Zar aber war Gottes Stellvertreter auf Erden, weshalb Peters
Frevel

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